Es wird diesmal ein etwas persönlicherer Beitrag, jedoch durchaus übertragbar auf viele „Leidensgenoss:innen“. Es ist meine eigene Geschichte anhand der Zähne. Den Titel habe ich von David Foster Wallace geklaut und kurz mal adapiert. Bei ihm heißt es „Consider the Lobster“, bei mir „Consider the Teeths“ und bei beiden geht es um viel mehr…
Dr. Google und Dr. Wikipedia führen uns sachlich ein: „Der Zahn (Plural Zähne), lateinisch und fachsprachlich Dens (Plural Dentes), ist ein Hartgebilde in der Mundhöhle von Wirbeltieren. Mit den Zähnen wird Nahrung ergriffen, zerkleinert und zermahlen.“ Normalerweise hat der Mensch davon 32 Stück, ich hatte deutlich weniger (Hypodontie) und damit begann die Misere …
Dazu kam der Versuch mit dem Fliegen, mein ewiges Thema. Ich war in der Grundschule, die ersten beiden Schneidezähne gerade ungelenk riesig im Mund. Ein paar Mädchen und Jungs gaben zentrifugale Starthilfe. Ich hob ab … und landete … auf dem Mund. Damit waren die zwei Front-Beißerchen, krach, zur Hälfte weg. Die Nummern zwei links und rechts gab es nicht, dafür klaffte in der Mitte zwischen den abgebrochenen Einsern nun eine noch größere Lücke. Was tun? Meine Mutter kam gar nicht mehr aus dem Heulen raus. Man brachte mich zum Zahnarzt nebenan.
Unglücklicherweise herrschte zwischen ihm und meinen Eltern ein Hecken-Kleinkrieg. Man stritt sich über Grenzbepfanzung, Wegerecht, Beschnitt und Gärtnerkosten … Ich weiß es nicht im Detail. In meiner kindlich Wahrnehmung war dieser Zahnarzt ein „Unmensch“, und von dem sollte ich mich nun behandeln lassen. Ich lag auf dem Stuhl, musste den Mund aufreißen und wurde Zeuge, wie er und seine Frau, die Zahnarzthelferin, über meinem Kopf hinweg den schönsten Ehestreit ausführten. Sie brüllten sich an, ich war vergessen, schaute in die grelle Lampe, der Rest war für sie Nebensache, für mich ein Desaster.
Meine Mutter malte mich mit neun Jahren, Mund geschlossen!
Ob nun Lücke lassen oder schließen, die Zähne mit Hilfe von ein paar Drähten kunterbunt über den Kiefer verteilen? – Man war ratlos, probierte mal so, mal so. Ich blieb hässlich, die Lippen verschlossen. Dann der Tanzunterricht und „Doc. Nachbar“ bastelte geschwind eine Klammer mit zwei Zähnen dran. Wie fand ich mich hübsch! Die kurzen verwirbelten Haare hatte ich über Stunden mithife einer Badekappe glattgebügelt. Rock, Bluse, Lackschuhe. Nur noch einmal vorm Spiegel die blitzende geschlossene Zahnreihe bewundern und demonstrativ in einen Lakritz-Katje beißen. Wieder krach, der linke Kunstzahn war ab, ich entstellt. Nix mit Walzer & Co., nun war ich es, die heulte, endlos, über mich und mein ganze Unglück. Fotos gibt es keine aus dieser Zeit kein.
Vernissage, ich um die 26/28 Jahre alt, Mund geschlossen.
Mein erster Freund war ein, was sonst, Zahntechniker. Er wollte mir eigentlich absagen, was das Miteinander-Gehen anbelangte, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen (Fehler). Wenigstens baute er mir meine erste Frontzahnbrücke, zusammen mit seinem Freund, dem „Doc. türkisch Zahnarzt“, der sich gleich in mich verliebte. Kommt vor, war mir neu.
Mit 28 Jahren, ausnahmsweise lächelnd mit Zahnlücke.
Als die Beziehung nach ein paar Jahren in die Brüche ging, landete ich bei „Doc. Uniklinik“. Ich hatte ihn auf einer Party kennengelernt, war gerade aus den USA zurück, wo alle Rich-Kids-Kommilitonen strahlend weiße markelose Zähne besaßen. Schon in der Erstphase der Behandlung verbrannte er mir ein Stück Lippe, erstickte mich fast beim Gipsabdruck nehmen und gestand mir (ich unter ihm liegend), dass er mich lieben würde und deswegen so zittere. Man könne sich ja sonst so sehen. Panik! Nein Danke, viel zu gefährlich.
In unserem ehemaligen Loft, Mund geschlossen. Fotografie von Bernhard Prinz, Mund geschlossen.
Der nächste, „Doc. Schickimicki“, nahm sich irgendwann das Leben, der darauf Folgende zog ausversehen einen falschen Zahn (zum Glück ganz hinten), man nennt ihn auch den „Schlachter von Eppendorf“, aber solche Dinge erfährt man erst danach.
Und so vergingen die Jahre, kein Foto, kein Lächeln, wenigstens nicht, wenn irgendwo eine Kamera drohte. Ich fühlte mich o.k., aber die Freunde mit dem strahlenden Zähnelächeln sah ich neidvoll an. Ach, hätte ich doch … alle 32 in Reih-und-Glied.
Dann lernte ich Kathrin kennen, sie war die erste, die einen Blazer in der MILCHSTRASSE 11 kaufte, wir wurden Freundinnen. Sie war, nun was wohl: natürlich Zahnärztin. Irgendwann schrieb ich ihr aus Verzweiflung: „Meine Zähne sind seit ich denken kann mein Stressableiter, Sorgenkind, Angst-Terrain… “ – Worauf sie antwortete: „Ich nehme mich leidenschaftlich gerne Deiner Zähne an.“ Und damit komme ich zum glücklichen vorläufigen Ende, bevor daraus ein Fortsetzung-Roman wird.
Kathrin und „Doc. Holiday“, wie ich ihn amüsiert nenne, weil er so gut aussieht und immer einen lässig-flotten Spruch hat, kümmerten sich mit Langzeit-Strategie um meine Dental-Psychose. Ich bekam Invisible Zahnschienen, 34 insgesamt, um meinen Schrumpf-Kleinkind-Kiefer auf eine attraktive U-Form zu bringen. Vorteilhaft nahm ich drei Kilo ab, weil es so anstrengend war, die Plastikkappen rauszunehmen und wieder reinzufummeln. Und siehe da, es gab erste Fotos mit einem Lächeln.
Nach gut eineinhalb Jahren, wir sprechen von der Jetzt-Zeit, mussten wir nur noch rekonstruieren, wie ich wohl ausgesehen hätte, wenn a.) nicht geflogen und b.) alle Frontzähne vorhanden. Die Amerikaner machen es sich einfach, sie nehmen sich die angesagten Schauspieler:innen als Vorbild. Aber ich will keinen weißen Lattenzaun und nicht aussehen wir Meryl Streep oder wie Juliane Moore.
Nein, ich will aussehen wie ich. Die Lücke (Diastema) gilt damit als gesetzt, sie ist mein Glückssymbol. Vanessa Paradis hat sich damit Johnny Depp geangelt (und wieder verloren), Madonna wurde zur Ikone und Lauren Hutton zu dem Top-Model schlechthin.
Wir, heißt ich als mündige Patientin mit Spiegel in der Hand auf dem Behandlungsstuhl, Doc. Holiday, Kathrin und der Zahntechniker probierten und verwarfen. Es geht um weniger als Millimeter, es geht um Form, um Farbe und Farbverläufe, um Gebrauchsspuren, wie sie das Leben abkaut …
Welldone! Das bin ich, wie ich hätte sein können und wie ich bin. Ich lächele und ich lache, als wäre es nie anders gewesen. Meinen beiden tapferen hochbegabten Zahnärzt:innen schreibe ich: „Es ist ein Gefühl, als wäre etwas geheilt, was seit meiner frühesten Kindheit ein tief verankertes Problem war.“ – Nun bin ich gespannt, was alles noch kommt… am Beispiel der Zähne.
Manchmal denke ich doch wir sind verbündete im Geiste. Dein Gedanken und Befindlichkeiten erinnern mich immer wieder an mich selbst. Nicht nur die schönen Sachen sondern auch Dein heutiger Beitrag. Bei mir hieße es „consider the head“ und nicht die Zähne sondern meine Physiognomie. Von kleinauf wurde ich gehänselt, dass ich so einen runden Kopf hatte und im Kinderheim mußte ich im Märchen Allerleihrauh, anstatt der wunderschönen Titelheldin, den Mond spielen. Leider ließ sich das durch keinen medizinischen Eingriff beheben und erst im Erwachsenenalter habe ich mich von diesem Komplex befreit. Wahrscheinlich leiden viele Menschen an solchen Vorstellungen was Schönheit ist. Ich finde mich heute total ok – so wie ich bin! Wieder mal Danke an Dich für Deine Offenheit!
Musste schmunzeln, danke für Deine Antwort!!! Du bist total o.k., siehst super aus.