Es wird Zeit, dass ich endlich über die diesjährige Nobelpreisträgerin Annie Ernaux schreibe. Meine Freundin Christiane von Korff hatte sie für Roma e Toska 2017 auf der Buchmesse in Frankfurt interviewt. Nur gelesen hatte ich noch nichts von ihr, und das war das Problem. Es gab nach der Verkündung der Auszeichnung keine (!) Bücher mehr. Gallimard, ihr französischer Verlag, druckt angeblich eine Million Exemplare nach. Nur eines konnte ich noch erstehen, das letzte im Keitumer Buchladen: Annie Ernaux, Die Scham, 1997 veröffentlicht, 2020 in der deutschen Übersetzung bei Suhrkamp erschienen.
Annie Ernaux in Yvetot in der Normandie
Menschen finden einen und Bücher genauso. Es ist, als würde Ernaux in dieser Erzählung auch meine Kindheit beschreiben. Sie ist geboren in „Y“. Lange verrät die Autorin nicht den wirklichen Namen der kleinen Stadt in der Normandie. Ich bin in „E“ geboren und verheimlichte es genauso. Aus Scham, wie sie es nennt. Ich hätte kein besseres Wort dafür finden können.
Ich mit vier Jahren in Elmshorn
Annie Ernaux ist so alt wie meine Mutter gewesen wäre, würde sie noch leben, 1940 geboren. Trotz des Generationsunterschiedes zu mir sind die Strukturen in diesen etwas abseits gelegenen Orten ähnlich. Die Enge, die Angst vor den Nachbarn, gleichzeitig die spionhafte Neugierde, was sich hinter den Fenstern und Türen der Häuser nebenan abspielt.
Bilder Elmshorn aus den frühen 1960er Jahren.
„Das Leben ist in feste Abschitte unterteilt“, schreibt Ernaux, „die Kommunion und die erste Armbanduhr, die erste Dauerwelle für die Mädchen … zum ersten Mal seine Tage bekommen … alt genug, um zu heiraten und Kinder zu kriegen … um nicht mehr arbeiten zu müssen … um zu sterben.“ Ich müsste nur die „Kommunion“ durch die „Konfirmation“ ersetzen. Der Rest gilt in dieser Vorhersehbarkeit.
Postkarte aus Yvetot
Ich folge der „Ethnologin meiner selbst“, wie sie notiert, ihrer Beschreibung der Straßen, mit dem sozialen Gefälle, der Häuser mit den Gärten davor, dann den immer ärmer werdenden Vierteln, wo sie wohnt. Damals sagte man: „Ich geh in die Stadt“ und machte sich dafür zurecht, obwohl man doch in der Stadt wohnte. Meine Großmutter und meine Mutter taten es ähnlich. Die Großstadt war unerreichbar fern.
Einkaufsstraße Elmshorn aus den 1960er Jahren.
Während es da draußen eine intellektuelle Welt der Literatur gab, Satre, Camus, las sie „Brigitte“, dachte sie an den Stretchgürtel, die Nylon Strümpfe und die hochhackigen Schuhe. Wir sprechen von dem Jahr 1952. Alles kreist um ein verstörendes Geschehen: „An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“ Was für ein Auftakt. Ich erinnere ähnlich dramatische Versatzbilder als kleines Mädchen, und dann wieder dieses „Es geht uns doch so gut“.
Das Haus der Eltern von Annie Ernaux aus Yvetot.
Der Beinahe-Mord schwingt immer mit, egal, ob Ernaux die Abfolge der Zimmer in dem Haus ihrer Eltern beschreibt, von dem kleinen Krämerladen vorne zur Straße, der Küche, der Kneipe und dem Lagerraum nach hinten in den Hof, der Stiege, die nach oben ging zu dem Schlafzimmer, das sie sich mit den Eltern teilte.
Bahnhof Elmshorn, der Fotograf ging mit mir zur Schule.
Ihre Sätze bleiben schlicht. Sie verwendet „Gebrauchswörter, untrennbar verbunden mit den Gegenständen und Menschen meiner Kindheit, Wörter mit denen ich nicht spielen kann.“
Eisdiele in Elmshorn, 1960er Jahre
Während ich das niederschreibe, spüre ich die Beklemmung meiner eigenen Kindheit, sehe die Eisdiele, wo wir uns als Schüler*innen trafen. Immer stand ich ein wenig abseits mit dem Sturm meiner Gedanken im Kopf, während die anderen die „Wörter ohne Transzendenz, ohne Träume“ (Ernaux) verwendeten.
Grundschulklasse Elmshorn, ich sitze unten in der Mitte mit weißem Pullover.
Und ich sehe uns als Familie am Mittagstisch sitzen, im Hintergrund das Radio mit den Schlagern und den Nachrichten zwischendurch. Nun fange ich an wie Annie Ernaux, die Bilder der Vergangenheit heraufzubeschwören. „Es gab kaum Wörter für Gefühle“, schreibt sie. Das ist wahr, man war „sauer“ oder „muffig“, man „sollte sich zusammenreißen“, „den Mund halten“ … – Irgendwann schrie ich meine Eltern an, dass ich anders bin und „unkaputtbar“. Dann war es still, und ich genoss diese Stille.
Das Nobelpreiskomittee begründet die Wahl von Annie Ernaux zur diesjährigen Preisträgerin: “for the courage and clinical acuity with which she uncovers the roots, estrangements and collective restraints of personal memory”. Ich bin ihr dafür zutiefst dankbar. Das kleine Buch mit nur 111 Seiten, groß gedruckt, ist mir in die Seele gefallen.
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