Ein kleines unscheinbares Buch halte ich in der Hand, es ist ein Fundstück, ein überraschender Schatz, den ich hebe, um ihn in meinen Beutel des Nachdenkens zu legen. Madame La Petite hat ihn für mich entdeckt und mir den Titel bei unseren Strandspaziergängen zugeworfen: Ursula K. Le Guin. Am Anfang war der Beutel. Eine Sammlung von Essays, Reden und ein Gedicht der bedeutenden US-amerikanischen Schriftstellerin (1929 – 2018), die mir nicht bekannt war, eine unverzeihliche Lücke, die ich unbedingt schließen werde.
Tasche Anna Lucke Design (€ 398), Kleid Elie Saab aus dem Nachlass Blechschmidt/Vogue
Wir meinen immer, zu Beginn unserer Evolution stand der Speer, mit dem die Männer loszogen, um das Mammut zu erledigen oder das Ur-Wildschwein, auf jeden Fall irgendein Riesenvieh, das zu erledigen den ganzen Mut und die ganze Kraft des Jägers forderte. Erzählerisch befinden wir uns im Kampf um Leben und Tod, in einer Männergeschichte, wie sie sich über die Jahrtausende Menschheitsgeschichte fortgesetzt hat.
Wir sollten umdenken, denn „das erste Werkzeug war wahrscheinlich ein Behältnis“, wie die Anthropologin Elizabeth Fisher schreibt, auf die sich Le Guin beruft. „Vielen Theorien zufolge handelt es sich bei den ältesten kulturellen Erfindungen um Behältnisse zum Transport von Gesammeltem und um eine Art Tragetuch oder Tragenetz.“ – Macht Sinn, erzählt sich nur nicht so spannend, wie die Story von Schweiß und Angst und Eroberung. Daran sollten wir etwas ändern.
Großer Beutel, Anna Lucke Design, € 498
Wer will in unserer heutigen komplizierten Zeit noch die „Pfeil-Story“ hören, die – wie Le Guin hämisch schildert – „im ‚hier‘ beginnt, schnurstracks nach ‚dort‘ führt und – tschack! – genau ins Schwarze trifft (und dabei ihr Ziel totschießt);“ klingt beinahe lächerlich, wir sehen den White Old Man, wie er sich selbst feiert, den ständig präsenten Helden, der seine Bühne braucht.
Anders in der Beutelgeschichte, da läge er (der Held) hineingeworfen oder -gelegt neben Kartoffeln, Weicheiern und Tollpatschen, zusammen mit winzigen Getreidekörnern und merkwürdigen Dingen, wie die Schriftstellerin aufzählt: in einer Tasche vollgepackt mit Anfängen ohne Ende (meine Spezialität, ich fühle mich verstanden), „… mit Raumschiffen, die Pannen haben, Missionen, die scheitern, und Leuten, die nichts verstehen …“ – So entwickeln sich wahre und zugleich fesselnde Romane.
Denken wir uns neu, als einen Sack von Befindlichkeiten und Beziehungen. Und wenn wir uns neu denken, dann können wir auch gleich die ganze Welt neu denken, unsere Erdgemeinschaft, in einem friedfertigen Nebeneinander.
Der kleine Essay von Ursula K. Le Guin endet schön und hoffnungsvoll: „Es gibt noch Samen, die es zu sammeln gilt; es gibt noch Platz im Sternenbeutel.“
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