Heute stecke ich erst ziemlich spät etwas in den Adventskalender hinein. Es ist Freitag, der 13., da darf es auch mal besinnlich, gar übersinnlich, auf jeden Fall nachdenklich sein, was sich hinter dem Türchen befindet: „Die Befragung der Realität“. Einst war es Titel der Documenta 5 (1972), und hat nie an Aktualität verloren.
Gestern Abend besuchte ich die Ausstellungseröffnung von Franz Gertsch (1930 – 2022) „Blow up – eine Retrospektive“ in den Hamburger Deichtorhallen. Wieder und natürlich geht es um selbiges Thema: die „Befragung der Realität“.
Gertsch gehört zu den wichtigen internationalen Vertretern des Photorealismus. Überlebensgroß seine Malereien und Holzschnitte. In beinahe mikroskopischer Arbeit setzte er über Monate, manchmal sogar über Jahre Punkt an Punk, Pinseltupfer an Pinseltupfer, kugelartige Kerbe an kugelartige Kerbe. Dabei spielt er mit der Nahsicht als Abstraktion sowie der Fernsicht als scheinbar reales fotografisches Abbild.
Er knüpft bei den amerikanischen Abstrakten Expressionisten an und gleichzeitig fängt er in einer provokanten Direktheit den Spirit der siebziger Jahre ein: jung, frech, selbstbewusst. Sie tragen Jeans, lange Haare, lässig und cool hängen sie über der Absperrung, die neuen „Medicis“, mit der Attitüde von „Uns-gehört-die-Welt“.
Es stimmt nicht, was ein Herr neben mir erklärend sagt: Es ginge nur um Oberfläche und handwerkliche Meisterschaft. – Nein, es dreht sich um eben diese berühmte „Befragung der Realität“. Eine Zeit im Wandel mit der Revolte von „F… You!“. Der Künstler dokumentiert sie, begreift sie, bündelt ihre Energie in einer malerischen Sisyphus-Arbeit, um sie anschließend wieder frei zu geben, stark und strahlend.
Ich finde die Ausstellung einfach beeindruckend, faszierend und staune, wie klein wir Menschen dazwischen aussehen. Wieviel unbeugsame Ruhe und Stärke in den Bildern steckt.
Ich denke an die Mona Lisa, wenn ich vor Johanna I stehe. Dann Irene, ihr roter Mund, der lockt mit dem endlich erwachten Selbstbewusstsein der Frauen, nicht mehr Opfer sein zu wollen.
Natürlich darf Patti Smith nicht fehlen, diese Ikone und Poetin, die eine ganz eigene Kategorie schafft von androgyn, zart, rebellisch und unangepasst.
Ist Franz Gertsch ein malender Marcel Proust, der seine Epoche statt in Worten in Bildern festhält? Beiden zu eigen ist die manische Detailverliebtheit, die eine andere tiefere Realität entstehen lässt und für die Zukunft konserviert. Ich empfehle sehr die Ausstellung, die bis zum 4. Mai 2025 in Hamburg zu sehen sein wird.
Und da noch etwas Platz in meinem 13. Kalender-Kästchen ist, stecke ich ein Zitat des Künstlers mit hinein: „It is the eye taking a walk through the landscape of a face.“ (Franz Gertsch über Johanna)
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