Gestern war der 9. November, Schicksals Tag der Deutschen. 1848 scheitern die Märzrevolutionen, am 9. November 1918 ruft Philipp Scheidemann die erste Republik Deutschlands aus, zwei Tage später endet der Erste Weltkrieg (wer an Karneval denkt, liegt in diesem Jahr falsch), 9. 11.1923 wird der Hitlerputsch in München vereitelt, es soll noch zehn Jahre dauern bis die Nationalsozialisten die Macht ergreifen.
9. November 1938 die Reichspogrom-Nacht und am 9. November 1989 Fall der Mauer. Ansonsten gibt es noch 364 Tage im Jahr, die auch Geschichte beinhalten, aber nicht vergleichbar sind mit diesem einen Datum im November.
Der 9. November 2020, ich entscheide mich, im Tempel in der Poolstrasse 12 zu übernachten. 1844 wurde das Gebäude als erste Reform-Synagoge errichtet, 1931 säkularisiert. Die ständig wachsende Gemeinde der Reform-Juden in Hamburg baute einen neuen Tempel in der Oberstrasse, der alte diente als Lager, stand leer. Damit wurde die Poolstrasse 12 nicht Bestandteil der Feuernacht von 1938.
Sechs Jahre später zerstörte eine Brandbombe der Alliierten das Mittelschiff, zurück blieben das Vorteil ohne die Türmchen und die Absis. Mein Bett steht mitten in den neuen Ausstellungsräumen zwischen Kunst und Mode. Der Blick fällt durch die Gusseisernen Sprossenfenster auf die Ruine.
Hätte es vor 82 Jahren hier noch ein aktives jüdisches Kirchenleben gegeben, so wäre wahrscheinlich nichts mehr von allem übrig. Und wenn doch, dann hätte sich das Leid tief zwischen die Mauern eingegraben und wäre heute noch zu spüren.
So ist es ein Ort geblieben mit der Magie der Versöhnung. Ich empfinde es so, während ich mich in meine Bettdecke einwickele und mich in die Zeit von damals zurück versetze.
In dieser Nacht am 9. November 1938 und in den darauffolgenden wurden 1.400 Synagogen, Bethäuser und jüdische Versammlungsorte vernichtet, tausende von jüdischen Geschäften zerstört, hunderte Juden mißhandelt und getötet und über 30.000 in Konzentrationslager abtransportiert. Es ist der Beginn von einer fortschreitenden Diskriminierung in eine systematische Vertreibung und Vernichtung.
Abb. Gestern brannten überall im Viertel Kerzen neben den Stolpersteinen.
Ich danke ihnen für ihre sehr emphatische und angemessene Erinnerung an den 9. November und mir wird ein weiteres Mal bewusst, wie doch viel zu wenig Menschen in unserem Land diese historisch-kulturelle aber auch persönliche und politische Stärke haben!!
Liebe Grüße
Ruth Schwake
Gestern schrieb mir eine Leserin einen so schönen Kommentar, den ich hiermit weiterleite:
Ihre beiden letzten Blogbeitrage in den magischen, versöhnenden Räumen berühren besonders und lassen mich an den wundervollen Franz Werfel denken. Ich musste sofort noch einmal nachlesen…. Er hat in seinem persönlichen Vorwort zu seinem „Lied von Bernadette“ 1941 geschrieben :“Ich habe es gewagt, das Lied von Bernadette zu singen, obwohl ich kein Katholik bin, sondern Jude. Den Mut zu diesem Unternehmen gab mir ein weit älteres und viel unbewussteres Gelübde. Schon in den Tagen, da ich meine ersten Verse schrieb, hatte ich mir zugeschworen, immer und überall durch meine Schriften zu verherrlichen das göttliche Geheimnis und die menschliche Heiligkeit- des Zeitalters ungeachtet, das sich mit Spott, Ingrimm und Gleichgültigkeit abkehrt von diesen letzten Werten unseres Lebens.“ Ihre Fotos vom Tempel mit den erleuchteten Fenstern im Dunkeln bilden für mich genau diese Zeilen wider!
Liebe Birgit,
wie stimmungsvoll Dein Beitrag wieder ist und gespenstisch, wenn wir die aktuelle Entwicklung um uns herum sehen…
Bleibe gesund!
Herzlich
Katrin
Bestechend klar, berührend emphatisch, voller poetischer Schönheit in Wort und Bild, auf dem Dir ganz eigenen außergewöhnlichen Weg –
so ist wieder einmal und ganz im Besonderen dieser Beitrag gelungen.
Ich danke Dir, dass Du solche Dinge machst, wie in eben jener Nacht und ausgerechnet in diesem Jahr eben dort dieselbe zu verbringen und genau darüber zu schreiben und zwar genau so, wie Du es tust, liebe Birgit! Dankeschön.
Herzlichst aus Harvestehude, um die Ecke der Oberstraße, Lydia