Es war Abend und wurde langsam dunkel, als ich ihn im Nieselregen über dem Wattenmeer fand, umgekippt lag er im Gras. Der Fliegenpilz. Alt musste er sein, sehr alt, ein „Silberrücken“ unter den Fliegenpilzen. Sein roter Schirm war flach mit einem Durchmesser von bestimmt 15 cm, sein Stengel wohl fast 20 cm lang. Wie schön er aussah. Vorsichtig hob ich ihn auf und trug ihn aufgeregt wie ein Kind nach Hause.

Am nächsten Morgen legte ich ihn auf mein aufgeschlagenes Skizzenbuch. Wie majestisch er aussah. Er wird hier nicht bleiben können, muss ich doch irgendwann nach vorne und nach hinten blättern. Aber wie kann ich ihn „erhalten“, nicht nur in meinen Erinnerungen, sondern auch als Teil meiner Bilder und Aufzeichnungen?

Vorsichtig nähere ich mich ihm, ziehe als Erstes mit dem Bleistift eine Linie um seinen Schatten, den das Licht von draußen geworfen hat. Wie eine Detektivin versuche ich den Standort zu sichern. Anschließend beginne ich, ihn in seinen Bestandteilen zu studieren, kenne mich nicht aus, habe keine Ahnung von Pilzen.

Kurz halte ich inne, dann fließt es förmlich aus mir raus. Dicht gedrängt reihen sich die Wörter und Sätze aneinander, schlängeln sich entlang der Schatten-Silhouette des Fliegenpilzes. Alles, was ich über Pilz weiß oder unbedingt herausfinden muss, notiere ich.

Amanita Muscaria lautet sein Name auf Latein, giftig ist er, und soll geholfen haben, Fliegen zu töten oder sie zumindest zu berauschen. Es gibt ihn in Märchen, bei Rotkäppchen, er ist bedohlich und glücksbringend zugleich. Ein mystisches Wesen. Leise summe ich das Kinderlied von dem Männlein im Wald, so still und stumm. Genauso liegt er nun neben mir, still und stumm, mein Pilz.

Seine Lamellen sehen aus wie ein aufgeschlagenes Buch mit schönem alten Papier, über das sich der lederne rotgepunktete Einband wölbt. Unbedingt muss ich mehr erfahren über die „verflochtenen Welten“ der Pilze. Was oben herausschaut nennt man Frucht, aber das eigentliche Leben findet unter der Erde statt mit einem weitverzweigten Netz von Fäden, den Myzellen. „Anarchisch-filigran“ wie sie sich zum Teil kilometernlang ausbreiten. Seine Lebensform wird nicht als Gegenstand, sondern als Prozess verstanden.

Auch mein Pilz hat ein unterirdisches Imperium hinterlassen, das weiter besteht, Symbiosen bildet mit den Bäumen und Pflanzen rundherum. Als ich heute über Frankreichs Regierungskrise las mit der Überschrift: „Die Grande Nation kennt keine Grande Coalition“, musste ich beinahe hämisch grinsen. Hätten sie sich mal intensiv mit den Pilzen beschäftigt, dann wüssten sie, ohne einander geht nichts in der Welt. 90% aller Pflanzen-Partnerschaften sind mit Pilzen. Man liefert sich gegenseitig, was dem anderen fehlt. Schwächelt ein Partner, dann übernehmen die Pilze und entsorgen ihn Stück für Stück wieder zu Humus.

Ich mache ein paar Polaroids, wieder eine Bestandsaufnahme. Ähnlich dem Geflecht der Pilze geht meine Recherche hin-und-her, wächst in alle Richtungen. Welche Künstlerinnen und Künstler haben den Fliegenpilz als Motiv verwendete? Ich finde den Begriff des „Sottobosso“ als Kunstgattung des 17. Jahrhunderts, das Stillleben des Waldbodens. Pilze waren die ersten, noch weit vor den Pflanzen, die aus dem Wasser aufs Land gingen, um Lebensmöglichkeiten für alle zukünftigen Spezies zu schaffen, auch für uns Menschen. Wir sprechen von einer Zeit vor mindestens zwei Milliarden Jahren.

Mein Fliegenpilz ist keine Pflanze und ist kein Tier, er bildet sein eigenes Reich, das der Funga, wie die Wissenschaft erst spät (1969) erkannte. – Die Stunden vergehen, in denen ich meinen Fliegenpilz mit meinem Geschriebenen und frischem Wissen umkreise, mich mit ihm unterhalte und unmerklich eine zarte emotionale Beziehung aufbaue.

Soll ich ihn wieder aussetzen, damit Schnecken ihn auffressen und er in den Kreislauf zurückgelangt, oder möchte er gar bleiben, sachte sich auf dem Papier ausstrecken, wie auf einem Totenbett. Mein Mann meint, ich sollte ihn im Ofen trocknen oder aufhängen. Fast zerreißt es mich, es hört sich grausam an. Ja, bin ich bescheuert, er ist doch nur ein Pilz, aber ich bin blockiert. Am Ende entscheide ich, ihn erst einmal so ruhen zu lassen, er sieht so friedlich und verwunschen aus, mein Pilz (fast hätte ich „Prinz“ gesagt).

Vorsichtig umhülle ich ihn mit den soeben eingetroffenen Tüllen aus Italien. Das Organza mit der unregelmäßigen Lochstickerei, er beflügelt meine Fantasie. Und so wird es wieder dunkel und wieder Nacht… Soll ich meinem Fliegenpilz einen Namen geben? Ach, ich bin so schlecht mit Namen.

Good Morning, Pilz! Beginnen wir gemeinsam den Tag.