Wir sind in Kampen auf Sylt und haben uns mal wieder zum Kunst-Lunch verabredet: Karen und ich, mittlerweile ein eingeschworenes Team, wenn es um weltumspannende Kulturverflechtungen geht. Sie gibt den Ton an, ich folge! Es geht um die Keramik, für die wir beide keine Spezialistinnen sind, aber als Kunsthistorikerinnen haben wir das Handwerk gelernt, die Dinge und was hinter ihnen steht sorgfältig zu betrachten.
Meine Frau Doktor habil. beginnt wie immer mit einem Paukenschlag: „Wir befinden uns im Zeitalter der Achtsamkeit!“ Was für ein Statement, das muss ich erst einmal verdauen. Dabei ist es eigentlich nur eine bessere Formulierung für nachhaltig, empathisch und empfindsam, die Dinge und das Geschehen um uns herum wahrzunehmen und wertzuschätzen. Richtig?
Sie nickt, Samy zu ihren Füßen rührt sich nicht vom Fleck, denn er ahnt, es wird spannend, richtig spannend. Selten entwickelte sich ein Thema während unseres gemeinsamen Essens so faszinierend „zeitgeistig“ mit einem Blick weit in die Welt hinaus.
Auf dem Tisch stehen die Keramiken von Paul Dresler, Richard Uhlemeyer, Christian Häuser und Hildegard Delius, die großen Namen der zwanziger bis fünfziger Jahre, ebenso wie die dazugehörigen Manufakturen: Grootenburg (Siegen), Carstens Uffrecht, Hameln, Karlsruhe Majolika. Bekannt sind sie jedoch nur einer kleinen Gruppe von Eingeweihten, von Museumsleuten und Sammlern. Kaum Publikationen, kaum Ausstellungskataloge.
Zu Unrecht, wie wir in der nächsten Stunde mit beinahe jedem Satz festhalten müssen. Es wäre dringend notwendig, hier mit einem Forschungsprojekt zu starten und vor allem selbst mit dem Sammeln zu beginnen, bevor die Teile endgültig verschwinden.
Abb: Keramik-Schale Hildegard Delius, 1920 (€580). Passend dazu Teller, Schalen und Dosen.
Alle Objekte gehören zur Sammlung von Krzysztof Graf Tyszkiewicz, der auch für das köstliche Omelette (Rezept folgt) verantwortlich ist, serviert auf einer Schale von Hildegard Delius, 1920. Damit gibt es nicht nur ein kulinarisches Erlebnis, sondern gleichzeitig auch einen visuellen Schmaus, wie ihn viele allzu oft vernachlässigen.
Konzentrisch nähern wir uns dem breit angelegten Vorhaben: Was Formen erzählen. Paul Dresler (1879 – 1950) und Richard Uhlemeyer (1900 – 1950) sind die beiden wichtigsten deutschen Keramiker der Reduktionsglasur, einem Verfahren, in dem beim Brennen die Temperaturen drastisch gewechselt werden, damit es zu rissartigen Spuren auf der Oberfläche kommt.
Abb: Paul Dresler, Vasen 1920 – 1930 (€ 250 – 850)
In unserem europäischen Denken hätten wir es früher als „schadhaft“ oder „misslungen“ deklariert. In einem anderen Kulturkreis gehörte es schon seit Jahrhunderten zur höchsten Raffinesse. Der Weg führt uns nach Asien, nach Japan, um genau zu sein.
Abb: Im Vordergrund neben i-pad Richard Uhlemeyer, 1950 (€ 450). Foto rechts Keramik Japan ca. 1750.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich das Land dem Westen geöffnet. Es entstanden Handelsbeziehungen mit einer nachfolgenden wahren Japan-Euphorie, vor allem in Frankreich. Wir sprechen in der Kunstgeschichte von „Japonismus“.
Endlich gelang es, den tradierten Formenkanon seit der Antike zu überwinden. Die Linie und die Fläche erhalten eine neue Dominanz und verdrängen im Bild die Illusion von der Wirklichkeit.
Die Flusslandschaft von Thomas Herbst steht noch ganz in der Tradition der Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts, anders oben darüber die Frühlingsbäume von Ernst Eitner. Farben und Formen bestimmen hier die Malerei. Van Gogh geht mit seinen Kirschblüten noch viel radikaler in die Abstraktion. Und plötzlich wird uns deutlich, wie sehr die Keramik in einem Kontext von Avantgarde und Zeitgeist steht!
Abb: Paul Dresler Keramiken 1930er Jahre (€ 300 – 550)
Die Natur ist nicht mehr Abbild, sondern wird zu einem immanenten Prinzip. Ich sehe, was ich sehe! Farben, Linien und Formen. Selbst in den kleinen Figuren, wie dem Esel von Paul Dresler (noch handsigniert), zeigt sich auf der Oberfläche das Prinzip des Zufalls und schafft so eine eigene lebendige Struktur.
Wir denken an den Jugendstil, an Sigmund Freud (90% ist das Unterbewusste), an den Surrealismus und an eine Ästhetik, die nicht mehr nur auf der Ratio basiert, sondern eine ungeahnte Freiheit schafft. Der Künstler will nur noch bedingt steuern, seine Virtuosität liegt darin, den Prozess zu starten, um ihn unabhängig laufen zu lassen.
Abb: Paul Dresler, Keramik grün, handgedreht, 1920er Jahre (€ 440)
Ich weiß noch genau, als mein Mann mir vor vielen, vielen Jahren bei einem seiner ersten Besuche eine Vase schenkte, keine Blumen. Und beim nächsten Mal gab es wieder eine Vase ohne Inhalt … Diesmal eine gesprenkelte von Walter Gramann in Anlehnung an meine Sommersprossen.
So ging es weiter, beinahe täglich, bis ich verstand, welch eine Schönheit diese Objekte besitzen. Mein Blick schulte sich an den Details. „Fragmentarisch“, wie Karen es nennt, konzentriert und damit stärker, als sich im Ganzen zu verlieren.
Abb: Dose Hildegard Delius, 1920-30 (€ 360)
Kommen wir zu der Keramikerin der zwanziger und dreißiger Jahre, für die es nicht einmal einen Wikipedia Eintrag gibt (!), obwohl sie zu den ganz wichtigen zählt: Hildegard Delius. Ihre Schalen, Teller und Dosen zeigen eine verblüffende Parallelität zur Keramik-Werkstatt des Bauhauses in Weimar: der eingelassene Deckel, die klaren Linien. Das Ornament ist bei ihr handgemalt.
Und wieder bahnt sich ein Übergang an zu einem ganz neuen Verständnis von Form und Fertigung. 1925 mit dem Umzug nach Dessau verabschiedete sich das Bauhaus von seiner Töpferwerkstatt und konzentrierte sich fortan auf die industrielle Fertigung, die schneller, günstiger und in größerer Anzahl produzieren konnte. Schöne und praktische Dinge für jedermann.
Das Geschirr von Wilhelm Wagenfeld ist oben noch in der handgemachten Version (dickerer Rand) zu sehen, wenig später wird es dann maschinell produziert: Täglich in der Hand, so der Slogan.
Aber zurück zur Keramik, der schweren, erdigen Form, die sich ihre Anleihen in der Ferne sucht und gleichzeitig einem Bedürfnis nach Ursprünglichkeit folgt. Ich notiere wie immer und tauche parallel ein in die Vielfalt meiner eigenen kreativen Vorhaben und Pläne.
Abb: Ruwenzori Bluse diesmal aus Seide (€498), Yves Saint Laurent Kette (€850).
Es ist Christian Häuser, Karlsruhe Majolika, der die Elemente einzigartig zusammenbringt mit der Schale, deren Füße Fabeltiere zeigen, die vielleicht nach Ozeanien gehören. Formen, die von Zeitgeist und Kulturen erzählen. Erneut ist es das „Fragment“, das den Blick für das Ganze schärft.
Abb: Christian Häuser, Schale mit Fabeltieren, 1920 – 30 (Preis auf Anfrage)
Wir haben ein paar Minuten für das Dessert. Noch nie hat uns der Kaffee so gut geschmeckt, wie aus dieser Tasse der zwanziger Jahre. Wir sind angekommen, im Zeitalter der Achtsamkeit.
Abb: Service 1920er Jahre, vielteilig (Preis auf Anfrage)
Weit haben uns die Gedanken hinausgetragen von einem einzelnen Objekt in eine ganze Kulturgeschichte. Von Formen lernen, heißt gleichzeitig Sehen lernen.
Abb: 4 Dessertteller und große Schale, 1920er Jahre (Preis auf Anfrage)
Die Keramiken mit ihrer Haptik, ihren Linien, Flächen und Formen könnten der Anfang sein für eine sensible erzählerische Wahrnehmung. Und all diese Objekte sind noch (!) für wenig Geld zu erwerben. Was für eine Chance!
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