Manchmal gibt’s spontane Handlungen, die sich dem Sinn zunächst verweigern. Gestern sprang ich nach zwei Monaten in den Zug nach Sylt und klemmte mir – zu meiner eigenen Überraschung – in letzter Minute das Buch von Richard Long „In Kreisen gehen“ unter den Arm. Warum? Keine Ahnung! Mit der Nordostseebahn fuhr ich in einem spärlich besetzten Abteil durch die saftigen norddeutschen Lande, blätterte in dem Katalog und las den Text von Anne Seymour, ehemals stellvertretende Kustodin der Londoner Tate Modern.
Abb: Richard Long. Line and Tracks in Bolivia, 1981
Es muss 1991 gewesen sein, als ich anlässlich seiner Ausstellungseröffnung in Köln zum Essen neben Richard Long saß. Der Galerist Rudolf Zwirner hatte mich eingeladen, weil ihm das Interview mit mir Spaß gemacht hatte oder einfach weil ich jung war. Ein unvergessliches Erlebnis an der Seite dieses außergewöhnlichen Künstlers zu sein, der so jugendlich aussah (damals 46 Jahre alt, ich 28). Er strahlte etwas zutiefst Liebenswertes aus, eine ruhige Zugewandtheit mir gegenüber, die ich sein Werk aus New York kannte, aber mich eher intuitiv als intellektuell seiner Kunst näherte. Vielleicht hat ihm das gefallen.
Genau wie er gehe ich gern, kann endlos gehen. Richard Long hat aus dem Gehen Kunst geschaffen, wird zum „Kartograph“ seiner Selbst und der Natur. Und wie Seymour schreibt, nimmt der Künstler dabei viele Gestalten ein, die „des Reisenden, Forschers, Pilgers, Schamanen, Zauberers, Poeten, Bergwanderers und schließlich die eines ganz gewöhnlichen Zeitgenossen aus Bristol“.
Nie ist der Künstler sichtbar, so wie Cy Twombly stielt er sich aus dem Werk heraus, aber er hinterlässt Spuren. Die Gegenwärtigkeit wird durch das Nichtvorhandensein gefühlt, der Mensch erklärt sich durch die Natur. Sanftmütig, ein anders Wort würde mir nicht einfallen, ohne zu beschädigen oder zu verletzten, sammelt Richard Long Steine und Hölzer und ordnet sie neu, schafft mit ihnen einfache archaische Formen wie Linien und Kreise. Er spürt den Wind als Energie und Gestalter, der den Pfaden Richtungen vorgibt. Auf die Frage, ob sein Werk gewissermaßen schon vor ihm da ist, antwortet er: „Ja, man muss es nur tun. Alle Noten sind vorhanden. Man muss sie nur richtig anordnen, so, wie man Steine im Kreis anordnet.“
Abb. Richard Long. Walking a Circle in the Mist, Scotland 1886
Intuitiv, und auch für ihn besitzt dieses Wort eine zentrale Bedeutung, fügt er Mensch und Natur zu einer Einheit zusammen. „Völliges Entspannen ist der ideale innere Zustand, wenn man in der Landschaft Kunst schaffen will. Ich denke dabei an gar nichts, bin gleichsam geistesabwesend. Vielleicht geht mir eine Melodie durch den Sinn. Ich denke an keine künftigen Wanderungen. Mich beschäftigt nur das, was ich gerade tue. Irgendwie lebe ich für den Augenblick, ohne Vergangenheit und Zukunft. Zwar ist es nicht immer so, aber sehr häufig entspringen die besten Werke dieser psychischen Verfassung, in der ich versunken, intuitiv und selbstvergessen bin.“
Die Landschaft fliegt an mir vorbei, Raps-Felder in leuchtendem Gelb, Wiesen in bläulichem Abendgrün. Richard Long bringt die Zeit zum Schweben, indem er den Werken keine andere Bedeutung zumisst als das, was sie sind, „ohne Erklärungen, ohne Bezüge, als Dinge oder Ideen eigener Wesensart.“
Ein Zauber liegt über meiner kurzen Reise auf die Insel, die noch vor wenigen Tagen so fern und verschlossen war. Es ist 21.35 Uhr, pünktlich komme ich in Westerland an, den Koffer an der einen Hand, das Buch von Richard Long in der anderen.
Gleich gehe ich vorbei an dem verblühten Kirschbaum an den Strand, der – um es mit den Worten des Künstlers zu sagen – „niemandem gehört und doch für jedermann in gleicher Weise real ist.“ Mehr ist es nicht und doch unglaublich viel, vielleicht alles!
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