Es ist spät, wir haben den teuren Wein getrunken (ein guter Griff vor Jahren, als er noch weniger als 30 Mark kostete), wir haben das Essen und die Gespräche genossen, und nun sitzen wir noch ein wenig beisammen, die Freundin in dem Day-and-Night Pullover in schwarz, Glitzerseite nach außen, ich in meiner Wolljacke von Cristaseya, flaschengrün.

Abb: Cardigan Cristaseya, grün, XS, S, M, L ( € 980), Gürtel Quallen, handbemalt (€398)

Mein Teil ist teuer, sehr teuer, Cashmere-Wolle, beinahe 1.000 Euro, ein Investment for a Life-Time, wie ich ihr kurz und trocken erkläre. Nein, für so viel Geld hätte sie gern schon etwas Glamouröseres, und damit macht sie eine ausladenden Bewegung, was so viel bedeutet wie: Unmengen von Stoff, weite Ärmel, Glitzer und gebauschte Seide.

Abb: Jonathan Anderson für Loewe. Poster aus der Box.

Eindringlich schaue ich sie an. Und wann willst Du es tragen? Was wäre Deine Aussage, wenn Du es anziehst? Ist es Dein Statement zu: Ich feiere die Kreativität? Oder feierst Du lieber Dich selbst? Willst Du damit sagen, dass es Dir gut geht, an nichts mangelt, das Geld keine Rolle spielt?

Das alles sage ich ohne Aggressivität, aber alles, was wir tragen, ist selbst in der Negierung eine Aussage über uns und unsere Haltung in der Gesellschaft. Die Freundin ist verunsichert. Sie ist doch eigentlich die Understatement Queen im Vergleich zu mir, die ich eher von allem nicht genug übereinander stülpen kann. Und nun anders herum?

Abb. Fashion Box von Jonathan Anderson, Loewe, statt Modenschau weltweit an über 900 KundInnen versandt.

Jonathan Anderson, der Chefdesigner des Luxuslabels Loewe (gehört zum LVMH Fashion Konglomerat) will gerade jetzt in die Vollen gehen, wo andere eher den Ball flach halten. An beinahe 1.000 KundInnen weltweit verschickte er seine Box mit großen Postern, die samt mitgeliefertem Kleister gleich auf die Wände tapeziert werden können. Die Opulenz ist für ihn vergleichbar mit Dior’s New Look 1947: Wir feiern die Schönheit.

Abb: Christian Dior’s New Look, 1947

Nur, wir sind nicht 1947! Wir kommen nicht aus dem Grauen und der Tristesse. Wir müssen ganz im Gegenteil erst einmal runter kommen, uns besinnen, uns distanzieren von dem Zuviel und stattdessen den Blick lenken auf das Nachhaltige mit einem implizierten „Zuwenig“. Wir müssen uns wieder sensibilisieren für das Garn, das unsere Haut streichelt, unseren Blick schärfen für die Passform, die unsere Figur modelliert, und wieder entdecken, dass die Einzigartigkeit auch im raffinierten Understatement liegt, das den Charakter unterstreicht. Hier sehe ich den neuen Luxus, mit dem ich mich wohl fühle in dieser Zeit, die so viele neue Fragen stellt und uns allen so einiges abfordert.

Abb: Cardigan Cristaseya, navy blau, XS, S, M, L (€ 980)

Sorry Jonathan, ich hülle mich ein in meine neue Strickjacke, trage meine alte Khaki-Hose, die noch viel ältere Yves Saint Laurent Bluse, den Gürtel handbemalt, tut mir leid, ich gehe diesen Weg nicht mit, für mich ist das „In-die-Vollen gehen“ überraschend leer, jedenfalls für den Moment.