Mit Toska in Paris wirkt die Stadt anders, überraschend, fühlt sie sich nach Entdeckung und Abenteuer an. Es geht um die Kunst, off-Szene, wir gehen durch abgelegene Viertel, die die Touristen nicht kennen. Unsere Wege führen ins Banlieue (Vorstadt), dorthin, wo man doppelcheckt, ob Portemonnaie und Handy gesichert sind. An ihrer Seite entdecke ich Belleville, in dem sich Paris noch wie ein Dorf präsentiert. Und dann müssen wir unbedingt Spinnweben „ernten“ auf dem berühmten Friedhof Père-Lachaise. Leuchtet mir grinsend ein, wo sonst?! Aber der Reihe nach.


Sonntag Nachmittag: Mit dem Zug, Enzyklopädie Band A und P und sonstigem Gepäck schleppte ich mich in die 6. Etage in der Rue de l’Université, wo Toska ihr Chambre de Bonne hat. Abladen, duschen, weiter. Sonne und Regentropfen wechseln sich ab. Vernissagen in Romainville.

Zwielichtige Gestalten umlagern den Ausgang der Station. Laub und Mülltonnen auf den Straßen, in denen die Stadtplaner definitiv versagt haben. Aber, wo die Kunst sich ansiedelt, da entwickelt sich Optimismus (ähnlich sagte es der soeben verstorbene Robert Redford).

Rechts-links um die Ecke, schon liegt vor uns eine ehemalige Fabrikanlage, die zu einem Kulturzentrum mit Galerien und Ateliers wurde. „Jusqu’ici tout va bien“ (bis hierhin lief es gut), steht über dem Eingang. Gezeigt wird junge Kunst, Manches belanglos, anderes macht neugierig und dazwischen eine Entdeckung, die Argentinierin Marina de Caro. Anfang sechzig ist sie und unter Insidern und Sammlern bekannt.

Der Abend endet in der 47, Faubourg Saint-Denis, bei „Chez Jeanette“. Einfache Köstlichkeiten für kleines Geld, ein Glas Wein. Vergangener Flair und neuer Charme verbinden sich erfolgreich mit Jugendstil Tapeten, alten Leuchtern und Spiegeln an den Wänden. Wir sind mit die Ersten, als wir gehen ist es rappelvoll.

Montag früh, die Sonne scheint über den Dächern durch die Fenster. Die meisten Kulturorte haben geschlossen. Es wäre dringend Zeit, Spinnweben zu ernten, meint Toska mit künstlerischem Ernst. Sie braucht das „Material“ für ihre nächsten Arbeiten. Wo könnte man es kultiger sammeln, als auf dem berühmten Friedhof Père-Lachaise in Belleville, dem „kleinen Montmartre“ im Nordosten der Stadt. Zwischen Baguette und Brioche packt sie die nötigen Utensilien für die „Expedition“, und los geht es in ein mir fremdes Paris.

Belleville ist (noch) geprägt durch die bescheidenen Häuser der einfachen Leute, Künstler, die nicht den großen Durchbruch geschafft haben. Ateliers, die die Fantasie beflügeln. Überall Streetart, Bistros. Wir schlendern durch die Gassen und Parks, reden über tausend Themen, unterbrechen uns und setzen wieder ein bei den Gedanken davor.

Viel gibt es zu sehen in diesem beschaulichen 20. Arrondissment, das schon nach Herbst duftet. Selbst die Blumen scheinen hier schöner als Zuhause. Toska jobbt in dem kleinen Bistro, erzählt, wie sie morgens den Gästen beim Kreuzworträtsel hilft. Anderes Wort für „Metamorphose“, dazu ein Café Crème, ein Croissant im Stehen. Die Zeit läuft hier etwas langsamer als sonstwo.

In dem ehemaligen Arbeiterviertel brach 1871 der Aufstand der Pariser Kommune gegen die französische Regierung aus. Drei Monate kämpften Männer und Frauen um mehr soziale Gerechtigkeit. Es endete mit der Niederschlagung und Exekution auf dem Friedhof Père-Lachaise. Und dennoch markiert diese Revolution einen Meilenschein auf dem Weg zur Demokratie.

Allein Belleville und seine Geschichte wäre schon ein Beitrag für sich, aber wir haben ja eine „Mission“ zu erledigen: Spinnweben für die Kunst. Noch eine schnelle Erfrischung, ein Crêpe de Marron, eine kurze Rast vor einem der zahlreichen Bücherläden und dann auf zum letzten Ziel.

Auf dem Friedhof ruhen viele berühmte Franzosen und Nicht-Franzosen. Am Eingang befindet sich eine Tafel, aber auch der Navigator im Handy kennt die Orte der Gräber: Molière, Georges Méliès, Chopin (sein Herz soll in Warschau sein), Edith Piaf … daneben Dynastien, an die man sich nur noch entfernt erinnert.

Ein zauberhaftes Licht liegt über dem Friedhof, romantisch und verwunschen. Schon nach wenigen Schritten abseits der Wege, entlang der kleiner Trampelpfade zwischen den Mausoleen, steinernen Kreuzen, Figuren und Steingräbern, findet Toska das erste Spinnennetz, Kategorie „Prachtexemplar“. Routiniert biegt sie den Draht zu einem Kreis, daneben liegen griffbereit eine kleine Schere und Haarspray wie die Utensilien einer Chirurgin.

Ich bin die Assistentin, verantwortlich für Fotos und Zureichungen. Geschickt fängt sie das fragile Kunstwerk der Natur mit ihrem Reif ein, schneidet es aus, fixiert es mit dem Spray. Vorsichtig, damit das zarte Geflecht nicht kaputtgeht.

Die Ruhe der Lebenden und Toten wird dabei nicht gestört. Keine Grabnische wird betreten. Ganz still, wenn auch ein wenig surreal, geht dieser kreative Sammel-Akt vonstatten. Ich bin beeindruckt und versuche die richtigen Winkel für die fotografische Dokumentation zu finden. Bloß nichts verpatzen, dann kann ich mich gleich zu den Särgen legen. Toska kann streng sein!

Anschließend wird das Draht-Gebilde sorgsam vor dem Wind geschützt unter die Plastikhaube geschoben. Und schon geht es weiter auf der Suche nach den nächsten Spinnennetzen, die die Vergangenheit umgarnen.

Nur wenige Spaziergänger begegnen uns, lediglich bei dem Grab von Jim Morrison wird es belebter. Es ist zu einer echten Pilgerstätte geworden, die sogar umzäunt werden musste. Gleich um die Ecke das einsam mächtige Mausoleum der Rochefoucaulds. Und dazwischen wird Toska erneut fündig.

Stunden sind vergangen. Sie wirkt glücklich und erschöpft. Ich vergnügt und energiegeladen. Was für ein Tag abseits des üblichen Mainstreams von Städtereisen, den Luxus Shopping-Vierteln und Handy-Stick-Touristen.

Es ist Abend geworden. Wir schnappen uns eine Flasche Wein und ein paar Cracker und laufen runter zu den Tuillerien, um wieder ein anderes Paris einzuatmen. Royal!

Obwohl es kühl ist, bleiben wir bis die Sonne untergeht und uns die Wärter freundlich rauskomplementieren. Morgen ist auch noch ein Tag!