Es ist wieder Montag und es ist Mittagszeit, wir reden von gestern, den 23. November 2020. Pünktlich steht die Kunsthistorikerin Dr. Karen Michels vor der Tür in der Poolstrasse 12, und ich bin entsprechend vorbereitet mit Quiche und Salat von Hej Papa, dem kleinen Cafe gegenüber.

Wir haben Hunger, der Kühlschrank zuhause ist leer wie immer, und wir beide fiebern dem gemeinsamen Lunch mit der geistiger Nahrung entgegen, unserem Ritt durch die Kunstgeschichte und die Philosophie des Lebens. Letzteres nennen wir mal vorsorglich so, damit wir nicht anecken bei den wirklichen Philosophen unter uns. Das Thema heute: die Landschaft und die Natur.

Anlass für dieses Thema: Die neue Edition „Ruwenzori. Pure Nature“ mit den Fotografien von Christian und seiner Expedition auf 3.400 Meter Höhe in Uganda.

Kaum, dass wir sitzen und kurz tief luftholen, prescht Karen schon voran: Natur galt seit den Anfängen der Kunst als „grauenvoll“! Mein Teller ist noch unberührt, ich greife schnell zu Notizblock und Stift. Der Erstschlag hat gesessen! Die Natur ist verbannt, schön ist, was gestaltet ist.

Die Antike kennt nur die zivilisatorische Natur mit dem Blick in der Garten, eingerahmt von Säulen und Fenstern. Die Landschaft ist inszeniert, das Sichtfeld beschränkt, die Idylle ordnet sich den kompositorischen Gesichtspunkten unter.

Antike Landschaftsdarstellung. Pompeji

Wir springen rasant und mutig um mehr als tausend Jahre vorwärts, überschlagen kurzerhand das Mittelalter (zu düster, zu kompliziert, Landschaft findet eh nicht statt) und landen im Jahr 1336 als der Lyriker und Geschichtsschreiber Francesco Petrarca (1304 – 1374) freiwillig und zu seinem Vergnügen den Mont Ventoux besteigt, den „Berg der Winde“. Es mag die Geburtsstunde des Alpinismus sein, aber das interessiert uns weniger. Hier hat jemand das erste Mal ein Naturerlebnis gesucht zu seiner „Zufriedenheit“ und „geistigen Erregung“. Mutig für diese Zeit, wo der Weg über die Alpen meist tödlich endete.

Am Vorabend der Renaissance spricht er ungewöhnlich und überraschend von der Suche nach den inneren Befindlichkeiten des Menschen und dem Verlangen, diesen eine bildhafte Darstellung zu verleihen. Das streng geordnete Bild von der Landschaft öffnet sich zu einer freien Sicht auf die Welt. Petrarca beschreibt die Lust am Erleben und wie ihn jeder mühselige Schritt bergauf weiter zu sich selbst führt.

Trotzdem bleibt es in der Kunst bei der gestalteten Natur, einziges Sinnbild für Schönheit. In Gedanken rase ich durch die Altniederländische Malerei, Florenz, Venedig bis hin zu Frankreich mit der Schule von Fontainebleau. Zu sehen ist die nach ästhetischen Vorgaben geordnete Landschaft. Die Vorbilder sind Lorraine & Co. Kunst schafft Kunst und keineswegs gilt: Natur schafft Kunst.

Erneut springen wir, diesmal um 300 Jahre in das 17. Jahrhundert. Mit dieser Geschwindigkeit könnte es gehen, dass wir zum Dessert endlich im 19. und 20. Jahrhundert landen und damit bei der Verschmelzung von Kunst und Natur.

Abb: Karen: „… wollte das auch mal so machen wie Du 😂

Aber vor dem Kaffee kommt noch Ludwig der XIV und Versailles, Synonym für den Sonnenkönig, seine absolutistisch Regentschaft und damit einhergehend die Unterwerfung und Zähmung von Natur. Strahlenförmig laufen die Achsen auf das Schloss zu und damit auf den Souverän. Der Garten bzw. die große Parkanlage spiegelt das Herrschaftssystem wider. Die Wildnis wird zwar in Übersee entdeckt, aber hier liefert die Kunst die Nahrung für die Seele.

Abb: Versailles. Schloss und Gartenanlage unter Ludwig XIV (1638 – 1715)

Nun bin ich es wieder die drängelt, während Karen noch mit dem Salat beschäftigt ist. Wir befinden uns Mitte des 17. Jahrhunderts in England, dem wohl damals fortschrittlichsten Land in Europa. Soeben ist die „Bill of Rights“ (1689) verabschiedet, die die Ära der Parlamentarischen Monarchie einleitet. Wer will da noch einen Park wie Versailles, nein, ganz und gar nicht, der englische Landschaftsgarten folgt dem Prinzip der Freiheit. Aber lassen wir uns nicht täuschen, bei aller „Natürlichkeit“ wird immer noch raffiniert gestaltet, der Zufall gebändigt und dem Willen einer künstlerischen Inszenierung untergeordnet.

Das Gemälde von Thomas Gainsborough (1727 – 1788) ist eines meiner Lieblingsbilder. Der Blick geht in die Tiefe, aber verlockt eher zu einem kultivierten Spaziergang als zu einer Expedition, wie sie Grundlage meiner Blusen-Motive ist. Dennoch atmen wir den Geist der Aufklärung und eine nicht zuvor gekannte und gelebte Offenheit und Toleranz.

Wir sind beim Dessert und Espresso und damit nähern wir uns wie versprochen dem 19. Jahrhundert. Aber zunächst biegen wir ab nach Wörlitz, dem Garten des Fürsten Leopold III. von Anhalt-Dessau (1740 – 1817), UNESCO-Weltkulturerbe und Thema der aktuellen Wissenschafts-Arbeit von Dr. Karen Michels. Meine Gesprächspartnerin ist in Fahrt und ich komme kaum mit den Notizen hinteran.

Der junge Fürst mit seinem kleinen Land zwischen den Giganten Preußen und Sachsen wollte alles fortschrittlich umgestalten. Er kam zurück von einer Exkursion nach England und riß als erstes das Barockschloss bis auf die Grundmauern ab, um darauf das erste klassizistische Schloss auf dem Festland zu errichten. Er las wie besessen, Voltaire, Rousseau, ein Zurück zur Natur, den Gedanken von einem neuen Gemeinwohl und eine Verbindung von menschlicher und botanischer Natur.

Die „Wildnis“ ist nach wie vor kein Terminus der Kunstgeschichte, wir reden von der „Ornamented Farm“, aber wir haben ein Ziel: Nächstes Frühjahr in Wörlitz! Ich muss lachen, genau wie Anton Tschechow in „Die Drei Schwestern“ (dort ist es „Moskau“, das für die Sehnsüchte und die Suche nach dem Glück steht). Wäre das schön, Karen führt uns durch den Garten und die Welt des exzentrischen, freiheitsliebenden aufgeklärten Fürsten.

Nun fällt ihr Blick auf meine Bluse, die, wie sie es ausdrückt, beides besitzt die Freiheit und die Form, die Natur mit den Abbildungen und das Raster des Tartan. Es sind die uralten Gegensätze in der Kunst. „Wenn Du den Moment erwischt zwischen diesen beiden Elementen, dann ersteht Kunst. Reine Wildnis kann nicht Kunst sein, es ist keine Kategorie der Ästhetik.“

So wie der Stoff aus einer Idee und einem Zufall entstand, so lässt – und nun sind wir endlich im 20. Jahrhundert angelangt – die moderne Kunst die Natur in ihr Schaffen. Edvard Munch stellte seine Bilder draußen in den Regen, um sie ohne seinen Einfluss weiter zu verändern. Die Surrealisten suchten die Natur im Menschen selbst, dort wo wir keine Kontrolle mehr ausüben können.

Abb: Gerhard Richter, Baumgruppe, 1987, Öl auf Leinwand, 72 x 102 cm

Wir sind bei Gerhard Richter und seinen akribischen Malereien, die er mit dem Spachtel verwischt in eine „zufällige“ Abstraktion, seine Realität, seine Natur. Ungewiss, eigenwillig, unverständlich.

Köstlich! Wir beide mit unseren überbordenden Temperamenten sind in Bestform. Was für ein großartiger Bogen, den Karen und ich wieder geschlagen haben. Ein Mittagessen, eine Stunde und mal so eben zweitausend Jahre Kunstgeschichte.

Wir sind uns einig: Die Welt ist spannender, wenn man die Kunst und die Natur zusammenbringt, entlang des schmalen Grates von Freiheit und Form, mit dem Blick der Aufklärung von Toleranz und Offenheit. Mehr als eine Bluse und eine Edition. Ein Lebensthema!