Es war einer dieser Abende, die einen erfüllen, dass es für eine kleine Ewigkeit reicht. Nach einem Jahr Corona-bedingter Pause findet erneut das Martha Agerich Festival in der Laeiszmusikhalle Hamburg statt (bis 30.6.2021), und ich bin eingeladen. Der Weg dorthin entpuppte sich als erzählenswerte Ouvertüre: 16:22 Uhr springe ich Westerland/Sylt in den Zug. Stellwerkprobleme, es kommt zu Verspätungen und Ausfällen. Mein zeitlicher Puffer von einer Stunde schmilzt bedenklich. Das Ende der Fahrt nach Hamburg droht in Niebüll, dann in Husum…
Frustriert sind die meisten schon ausgestiegen, ich verharre, fast fühlt es sich an, als würde der Zug allein für mich fahren. Da setzt sich der Schaffner zu mir, und ich erzähle ihm von Martha Agerich, dieser weltberühmten Pianistin, die gerade achtzig Jahre alt geworden ist, deren Konzert ich nicht verpassen will! Der Mann lächelt, noch nie davon gehört, aber er versteht, der Zug darf nicht ausgesetzt werden in Elmshorn, muss es rechtzeitig schaffen bis Hamburg. Und siehe da, wir holen auf, am Ende sind es nur noch sechzehn Minuten zu spät. Ich schlüpfe schnell in die weiße Marlene Hose und die Kopernikus Bluse, streiche mir durchs Haar und nehme die Freundin in den Arm. Dann beginnt es. Nach so langer Zeit sitzen wir wieder in einem Konzerthaus.
Im Frühjahr 2019 spielte Martha Agerich zusammen mit der Peking Oper den „Palast der Pfingstrosen“, ich weinte, so überirdisch schön war es. Nun ist es die 1944 in Lissabon geborene Ausnahmepianistin Maria João Pires, die beginnt. Die zierliche Frau spielt Franz Schubert (1797 – 1828), das Impromptu B-Dur D935 Nr. 3 („Rosamunde“). Ihre Finger fliegen über die Tasten als wollten sie das Leben in Form von Noten bündeln, als hätte sie so viel zu erzählen, das es nicht ausreicht für die wenige Zeit des Daseins. Ihr Spiel ist heiter, stockt, wird düster, um erneut Anlauf zu nehmen, grüblerisch, verzweifelt, und gleichzeitig fasziniert, mit einer unbändigen Freude, wie tausende von Perlen, die über den marmornen Boden einer Piazza kullern.
Ein nicht endender Beifall, dann kommt Maria João Pires erneut auf die Bühne, zusammen mit Martha Agerich, zwei legendäre Pianistinnen, Schulter an Schulter, die zu den besten der Welt gehören. Sie spielen Mozart (1756 – 1791), Sonate für Klavier zu vier Händen C-Dur KV 521, und es wird plötzlich ganz intim, der Vortrag persönlich, die beiden spielen zu uns als Freundinnen, die sich etwas erzählen, mit Respekt, mit Protest, mit Scherzen, klug und erfahren, temperamentvoll und still, neugierig und zweifelnd. Ich bin gefesselt von dieser heiteren Schönheit, von der Klarheit im Widerspruch und der vorantreibenden Freude, das Erlebte in Form von Musik miteinander zu teilen.
Der letzte Akkord ist verklungen, es dauert, dann erheben sich die Zuschauer, alle! Auf der Bühne stehen die Beiden Hand-in-Hand, verbeugen sich mit einem Lächeln. In ihrer bescheidenen Geste steckt ein großer Moment.
„Wenn aus Freundschaft Musik wird“, ist der gemeinsame Auftritt übermittelt. Wir sitzen später noch zum Essen mit zwei jungen Konzertpianisten zusammen. Er konnte Franz Schubert (Sonate für Klavier A-Dur D 664) mit vierzehn Jahren nicht spielen, seine Dissonanzen nicht verstehen, erzählt mir der eine von beiden. Vielleicht braucht es dazu ein gelebtes Leben.
Danke für diese wunderbar einfühlsame Schilderung. Wäre gerne dabei gewesen!
Schön beschreiben Sie das. Beim Lesen hat man das Gefühl, dabeigewesen zu sein.