Hamburg – Paris in einer Stunde, mit dem Zug wohlgemerkt. Wie das gelingt? Ganz einfach, man steigt in den ICE und springt in Bremen wieder raus, um sich in der Kunsthalle die Ausstellung Manet & Astruc anzuschauen. Karen Michels hatte recht, die Schau ist einzigartig, ein faszinierend kluges Kabinett-Stück der Kunstgeschichte. Und schon bin ich mitten im 19. Jahrhundert in Frankreich.

Vergessen der Regen, mein Gepäck für die Reise lagert so lange im Schließfach am Bahnhof. Mich erfasst das herrliche Gefühl eines Ausflugs mit bekanntem unbekanntem Ziel. Ich liebe so etwas, dann kann ich mich auf die Kunst einlassen, so als wäre sie nur für mich da.

10:00 Uhr, soeben haben die Türen des Museums geöffnet, ich bin allein zwischen dem Hauptwerk von Manet, der seinen Freund, den Kunstkritiker und Poeten Zacharrias Astruc 1865 malte. Daneben das Bildnis des Schriftstellers Émile Zola, drei Jahre später entstanden.

Und drehe ich mich um, ist da das Porträt von Édourd Manet, gemalt von seinem Kollegen Henri Fantin-Latour. Die Geschichte kann losgehen. Das Bildnis von Astruc ist gegen die Gewohnheit nicht vertikal aufgebaut und konzentriert sich auch nicht klassisch wie bei Fantin-Latour ausschließlich auf die dargestellte Persönlichkeit. Es ist wesentlich komplexer.

Der Freund sitzt vor einer dunklen Wand, im Hintergrund eine genreartige Szenerie mit einer Frau, vielleicht seiner Frau, Schaukelstuhl und Fenster, vorne ein Stillleben, typisch für die Niederländer im 17. Jahrhundert. Alles (!) erzählt. Manet zitiert nicht nur Tizian und die Renaissance, sondern verweist auf Velazquez und die Spanier, die Mitte des 19. Jahrhundert in Paris in Mode kamen (die rote Schärpe des Torreros trägt Astruc um die Hüfte).

Er fügt auch Zitate des Japonismus hinzu, der neue Hype in Frankreich seit den 1860er Jahren, versteckt im Stillleben links im Bild mit dem Skizzenbuch, das an Hokusai erinnert. Und wieder muss man sich nur einmal drehen, um auf der anderen Seite des Saales die passenden Referenzen in der Vitrine zu finden.

Skizzenbücher von Hokusai, Japan erste Hälfte 19. Jahrhundert.

Ich befinde mich in einem Geflecht von Bezügen, betrachte das Portrait von Zola und schon vervollkomnet sich das Zeitgeistige, ohne die Intensität des Porträtierten zu schmälern. Je mehr man weiß, desto mehr wird man erkennen, aber selbst ohne dieses Wissen ist es aufregend, mit den Augen die erzählerischen und malerischen Elemente abzutasten.

Und so ganz nebenbei lauert in jedem Detail eine Inspiration für mich als Designerin, die eigene Stoffe entwirft, Materialien von exklusiven Manufakturen auswählt und mit der Hilfe dieser Kunst ein wenig unkonventionell alles miteinander kombiniert.

Nach einer halben Stunde bin ich immer noch so gut wie allein in diesem Raum. Stück für Stück werde ich ein Teil der Malerei und denke dabei gleichzeitig an die aktuelle Kollektion, an meine Skizzenbücher im Koffer und an den Gürtel, der für uns gerade mit dem Motiv des Japanischen Gartens handbemalt wird.

Im nächsten Saal wird auf den asiatischen Kontext eingegangen mit Bildern von Manet und Weggenossen, wie sie sich in der Komposition und der Flüchtigkeit des Alltäglichen den Vorlagen aus dem Osten nähern. Der Betrachter wird eingeführt in die Vorlieben der französischen Avantgarde der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Die Leihgaben stammen aus Paris sowie aus internationalen Museen und Sammlungen. Die Ausstellungsmacher sorgfältig und präzise gewählt, ausgehend dem einen Bild, das 1909 ins Museum kam, um nicht nur eine Freundschaft, sondern auch eine revolutionäre neue Kunst und ihre Epoche zu skizzieren.

Auch dem Blumenstillleben ist ein extra Raum gewidmet. „Ein Maler kann alles ausdrücken mit ein paar Früchten oder Blumen“, soll Manet 1874 gesagt haben. Das vermeidliche Dekor wird zum Inhaltsträger, gefeiert von einer entfesselten Malerei, die sich komplett vom Akademischen gelöst hat.

Kurz schaue ich auf die Uhr, es bleibt noch eine knappe halbe Stunde. Ich gehe wieder zurück an den Anfang. In dieser Ausstellung geht es um so viel, dass man ganze Seiten damit füllen könnte, ohne, dass alles gesagt wäre. Vorangestellt ist die Beziehung zwischen zwei Männern. Manet wird zu einem der berühmtesten Künstler der Moderne, Astruc bleibt lediglich eine Fußnote der Geschichte .

Henri Fantin-Latour malt die Freunde, vorne Manet, neben ihm Astruc, den er gerade porträtiert, hinten u.a. Renoir, Zola, Monet, 1870.

Trotzdem ist es ein Geben und Nehmen und ein sensibles Verständnis für die Begabung des jeweils anderen. Diese Tiefe des Empfindens geht über die Fülle des Erzählten keineswegs verloren, ganz im Gegenteil. Beide suchten die Gleichgesonnenen, um die Welt neu zu erleben und zu beschreiben.

Meine Zeit ist um, ich eile durch den Regen und bleibe plötzlich abrupt stehen, denn in all dem grauen Nass gibt es ein wenig Japan und ganz viel Freude auf Paris. J’arrive, in gut acht Stunden mit dem Zug über Köln (noch schnell eine Kerze im Dom anzünden) mit dem Thalys bis zum Gare du Nord, schon bin ich da, nicht weit von einem der damaligen Ateliers von Manet entfernt.

Die Ausstellung „Manet & Astruc“ in der Bremer Kunsthalle geht noch bis zum 27.2.2022, dazu gibt es einen Katalog, den ich zu dem anderen Gepäck unbedingt mitnehmen musste.