4:45 Uhr, Kampen auf Sylt. Still und friedlich unter Sternen. Der Ort machte jedoch im Frühjahr Schlagzeilen mit Neonazi-Parolen im Pony. Ich schwieg dazu, war mehr besorgt um das große Ganze, telefonierte mit der Produktion im Erzgebirge, die mir erzählten, dass es dort jeden Tag so abläuft. Was sind dagegen Schickimicki-Ausfälle in Champagner-trunkenen Nacht. Es ist unter uns, überall, das gefährliche menschenverachtende Gedankengut.


5:45 Uhr, 1. September 1939

Ausbruch des 2. Weltkriegs mit dem Angriff auf Polen am 1.9.1939

Auf den Tag genau 85 Jahre nach Ausbruch des 2. Weltkrieges: Die Hochrechnungen der Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen haben sich verfestigt: Sachsen 30,6% AFD, zweitstärkste Partei, Thüringen 32,8% AFD, stärkste Partei. Vergessen die Verheerungen ein knappes Jahrhundert zuvor mit über 60 Millionen Toten weltweit, den Folgen bis in unsere Generation hinein nicht absehbar.

Ich fühle mich nicht in der Stimmung, im Zug sitzend über Mode zu schreiben. Stattdessen schicke ich dem parteilosen Krisen-PR-Freund Carsten Maltzan eine WhatsApp: „Was wäre Dein Statement zu den Wahlen? Ich überlege einen Beitrag, der nicht ein abgedroschenes Entsetzen wiedergibt.“ –  Seine Antwort:

Carsten Maltzan, unser It’s a Dienstag Gast im März 2014

Liebe Birgit, anbei einige wenige Gedanken zu den gestrigen Wahlen: das parteipolitische Klein Klein lasse ich mal aussen vor – dazu haben sich ja genügend Politikwissenschaftler heute morgen (z.B. Korte) geäussert.

1

Interessant ist, dass die Ergebnisse insgesamt wie erwartet eingetroffen sind und dennoch viele PolitikerInnen überrascht und enttäuscht darüber sind. Das spricht schon für einen gewissen Realitätsverlust – insbesondere bei den Berliner Regierungsparteien. Es zeigt sich immer mehr, dass die Politik in Berlin weit weg von den Menschen und deren Alltagsproblemen ist. Mir scheint dies auch ein Teil des Problems ingesamt zu sein: Medien tragen mit ihren Blasendebatten einen erheblichen Teil dazu bei.

2

Politik, insbesondere in Berlin, führt sehr viele Debatten, die sehr wenig mit den großen Problemen der meisten Menschen zu tun haben und verliert gleichzeitig die tatsächlich wichtigen Fragen aus dem Blick: Wohnen ist für viele Menschen in Städten unbezahlbar geworden. Altersarmut ist weit verbreitet. Die Schere zwischen Arm und Reich nimmt rasant zu. Energie ist sehr teuer geworden. Vieles, was für unser soziales Leben wichtig ist (Kultur, Gastronomie, Begegnungsorte), verschwindet immer mehr aus unserem Leben oder ist nur noch für Eliten bezahlbar.

3

Unser sehr erfolgreiches Modell der sozialen Marktwirtschaft droht in ein System des Turbokapitalismus im Endstadium abzurutschen – also Verhältnisse wie in den USA: Dort gibt es nur noch eine reiche Elite und die, die für sie arbeiten.

4

Wir brauchen einen Neuanfang bzw eine Aufbruchstimmung in unserer Gesellschaft, um soziale Errungenschaften und gegenseitigen Respekt / Umgang auf Augenhöhe zu bewahren. Die Erfolgsgeschichte der Instagram-Stars mit ihren Urlauben in Dubai und den dicken Autos führt am Ende dazu, dass viele junge Personen ihr Leben schon als gescheitert betrachten, obwohl es noch gar nicht begonnen hat. Ein Leben, das Erfolg nur noch am Kontostand und nicht an Erlebnissen, Begegnungen, Demut und Hilfe für Hilfsbedürftige abmisst, ist inhaltsleer und im wahrsten Sinne des Wortes asozial.

5

Die Kraft / Initiative für diesen Neuanfang / Aufbruch muss aus der Mitte der Gesellschaft von uns selbst kommen. Die Politik – insbesondere Regierungspolitik in Berlin – hat erkennbar nicht mehr die Kraft zu diesem für unsere Demokratie existenziellen Schritt. Sie verliert sich in globalen Gefechten über die Machtverteilung auf der Welt und in ideologisch geprägten Parolen, die von den meisten Menschen mittlerweile als abstoßend empfunden werden. Pragmatische an den Sorgen der Menschen ausgerichtete Lösungen entstehen so erst gar nicht oder – noch schlimmer – werden von einer übergriffigen Bürokratie im Keim erstickt. Die Zurückdrängung der Bürokratie wird eine der wichtigsten Fragen der Zukunft unserer Gesellschaft werden – ohne sie und ohne einen konstruktiven Pragmatismus droht unserer Gesellschaft und unserer Demokratie ein Zeitalter der ohnmächtigen Lähmung in der demokratischen Mitte und ein weiteres Erstarken der extremistischen Kräfte. (Carsten Maltzan)

Lieber Carsten, ich danke Dir für diesen Kommentar. Auf bald!