Wir haben mal wieder Hunger, es ist Montag und es ist Mittagszeit. Karen und ich sind verabredet, ich besorge das Essen und sie bringt ihre Notizen: Haeckel und Spinoza. Teil 2. Der Ort ist geblieben: die Küche im Tempel von 1844 in der Poolstrasse 12. Was gibt es Schöneres an so einem grauen Tag als mit gelöster Handbremse durch die Kunst- und Kulturgeschichte zu brausen.

Ein Freund von Karen aus Paris schrieb begeistert über unser letztes Treffen: „schon de Spinoza und Panofsky hätten sich in solcher Räumlichkeit sicherlich wohl gefühlt.“ Unser Brückenschlag ging von dem berühmten Kunstwissenschaftler zu Rembrandt in das Amsterdam des 17. Jahrhunderts und weiter zu seinem Zeitgenossen Baruch de Spinoza.

Nun holen wir weiter aus, oder besser Karen übernimmt diesen Part, ich folge lediglich. Bei Rote-Beete-Tarte mit Salat geht es ins 9. Jahrhundert zu dem Mönch Johannes Scottus Eriugena und seiner „Natura naturans“, die Welt als Selbstoffenbarung Gottes, als etwas, das man sich nicht erklären kann, obwohl dort drin die ganze Wirklichkeit steckt.

„Da bist Du doch sprachlos“, schleudert mir Karen entgegen. Sagen wir mal gespannt, wie sich dieser Begriff in der Geschichte fortsetzt. Klingt auf jeden Fall schon mal gut. Und schon hüpft sie eloquent zu Spinoza, der in seiner „Ethic“ zwischen der schaffenden Natur (Natura naturans) und der geschaffenen Natur (Natura naturata) unterschied. Das klingt noch besser, ich bin begeistert. Die Natur schafft die Natur in einem immerwährenden Prozess der Anpassung, einer unendlichen Mischung aus Energie und Kreativität.

Die Kunstwissenschaft, und Karen flüstert beinahe eindringlich, sie begriff die Natur als die größte Künstlerin. Der Mensch folgt ihr und wird damit Gott gleich. Keineswegs eine Blasphemie, sondern demütig setzt der Künstler das Schaffensprinzip Gottes fort. Das sieht man bei Dürer und bei Rembrandt.

Ich pendele zwischen Rote-Beete Tarte und Schreibblock, auf dem ich kaum leserlich die Stichworte notiere. Und wie schlagen wir den Bogen zu Ernst Haeckel, dem Wissenschaftler, dem Künstler, dem Philosophen?

Vielleicht wollte Haeckel der Alexander von Humboldt unter Wasser sein und dort neue Welten entdecken, er bewunderte den großen Abenteurer. Aber es ging ihm um viel mehr. Jedoch war es bis dahin ein langer Weg vom Sohn eines preußischen Juristen und Beamten, über den frühen Anhänger von Charles Darwin, dessen Werk 1858 erschien, kurz bevor Haeckel seine ersten Studien zu den Quallen und Einzellern veröffentlichte.

Darwin erklärte die Natur aus ihrer Gesetzmäßigkeit heraus. So begann auch Haeckel, aber schon sein erster Mentor Johannes Müller führte ihn von der Wissenschaft in die Naturphilosophie. Endlich mal jemand, der die „grenzpolizeiliche Befangenheit überwindet“, wie Aby Warburg diese universal denkenden Menschen bezeichnete. Ich mag diesen Begriff.

Draußen ist es ungemütlich, wie sitzen im Warmen, der Ort ist magisch. Von nebenan habe ich Kuchen und Espresso geholt. Wie der Freund aus Paris anregte, nehmen wir in der Badewanne platz und auch die blaue Elbsegler Mütze setze ich wunschgemäß auf.

Wir akzeptieren wie selbstverständlich, dass sich nicht alles erklären lässt. So muss es auch dem Wissenschaftler Haeckel gegangen sein, der systematisch und detailgenau die Quallen zeichnete und für den sich dabei der Weg in das Undenkbare öffnete, die Natura naturans, die Natur in ihrer unendlichen Schöpfungskraft.

Haeckel beschäftigt sich mit Baruch de Spinoza, dem Philosophen des 17. Jahrhunderts. „Er findet ihn toll!“ Und wieder schaut Karen mich eindringlich an. Meine Antwort wartet sie nicht ab, meine Begeisterung ist ihr eh gewiss. Der junge Wissenschaftler sucht Mitte des 19. Jahrhundert nach übergeordneten Modellen und wählte dabei die ältesten und kleinsten Wesen der Natur, und sie führten ihn dorthin, was uns Menschen (jedenfalls die meisten) auszeichnet: Geist.

Es ist etwas, dass wir nicht begreifen können, die „Allbeseeltheit“ in der Natur. Könnte mein neues Lieblingswort werden. „Das können wir ja mal so stehenlassen, dass wir es nicht fassen können mit Worten.“ Ich schaue sie an. Ja, das können wir, etwas, dass sich unserer rationalen Begrifflichkeit entzieht.

Vom 9. Jahrhundert zum 17. Jahrhundert, in das 19. und beginnende 20. Jahrhundert mit dem Jugendstil als Gesamtphänomen, das Haeckel mit den Kunstformen der Natur stark beeinflusste, bis hin zu der Stoffmesse in Paris, die es als Trend für 2020/21 ausgab: What if the solution were to be found in nature? Gemeint ist wieder die Natura naturans und Natura naturata, diesmal verstanden als künstliche Natur.

Wie bezeichnet Ernst Panofsky eigentlich „Zeitgeist“? Karen blättert in ihren Büchern, auf diesem Gebiet ist sie Spezialistin: „Die Einsicht in die Art und Weise wie unter wechselnden historischen Bedingungen Tendenzen des menschlichen Geistes durch bestimmte Themen und Vorstellungen ausgedrückt werden.“

Wunderbar, was tue ich anderes als mit den Mittel der Mode ein Statement zu unserer Zeit zu liefern, indem die Medusen des Ernst Haeckel auf den Blusen und Seidentüchern weit hinausgehen über das, was wir sehen und üblicher Weise als Klamotten bezeichnen.

Nächste Woche setzen wir unser Mäander der Gedanken weiter fort. Wir haben ja wieder Hunger. Dann werden es keine Geringeren sein als Kopernikus, Leonardo da Vinci (der Klecks an der Wand) und Picasso. Zeitensprünge haben uns beide noch nie geschreckt. Hauptsache, das Essen ist wieder so köstlich wie heute, und der Dress-Code stimmt.