Vergesslichkeit ist das große Leiden unserer Gesellschaft. Jeder ist vergesslich, da darf ich mich keineswegs ausnehmen. Meine Liste der to-dos ist lang und wird immer länger, denn ich vergesse, auf den Zettel zu schauen. Da fängt’s schon an. Sigmund Freud würde sagen, wir vergessen nicht, sondern wir wollen uns nicht daran erinnern. Interessante Wendung.

Wie alle wissen und nicht vergessen haben, bin ich promovierte Kunsthistorikerin. Aber da gab es noch zwei Nebenfächer, die ich mehr oder wenig engagiert und erfolgreich an der Uni belegte, schon fast vergessen: Literaturwissenschaft und Volkskunde. Letzteres hatte durchaus seinen unterhaltsamen Mehrwert, es ging um Märchen und Brauchtum, um die Kulturgeschichte des Löffels o.ä., um Spracheigenheiten und immer wieder um Redewendungen.

Da kommt mir das kleine Tüchlein gerade recht, soeben fertiggestellt in Italien mit den „Staatsquallen“ des Ernst Haeckel. Nenne ich es mal das „Quall-chen“ (das große Seidenchiffon-Tuch, 120 x 140 cm, gibt es natürlich auch). Und mit ihm erzähle ich die Kulturgeschichte des Knoten-Machens.

Der Knoten ist das Symbol der bindenden Verpflichtung. Er bündelt dämonische Mächte, verbandelt Liebende und steht für jegliches Treueversprechen. Wenn er platzt, ist es auch nicht schlimm, dann haben wir endlich irgendetwas kapiert und gelöst. Und manchmal, wenn es ganz wirr und übersichtlich wird, dann muss man ihn einfach zerschmettern, man nennt ihn den Gordischen Knoten.

Irgendwann gingen Knoten und Taschentuch eine sinnstiftende Einheit ein und wurden zur dingfesten Erinnerungsbrücke. Wir sprechen vom Anfang des 19. Jahrhundert. Sobald wir das Tuch mit dem Knoten sehen, klickt es: ah ja, da war doch was.

Heutzutage gibt es nur noch Papiertaschentücher (bis auf ein paar aus der Zeit gefallene Typen, die sorgfältig ihre Baumwolle-Taschentücher gefaltet in der Hosentasche tragen). Wir haben unsere Handys, die mit lautem Bimmeln uns an das Nichtvergessen erinnern. Wie grausam und unpoetisch.

Der Knoten im Tuch hat ausgedient. Schade eigentlich. Ich hätte permanent Verwendung dafür, und wenn es ganz wichtig wird, knote ich mir das Seidenchiffon Tuch mit den Staatsquallen von Ernst Haeckel um den Hals. Sollte ich trotzdem etwas vergessen, sehe ich dabei wenigstens hübsch aus.

Abb.: Kleines Seidenchiffon Tuch mit den Staatsquallen von Ernst Haeckel, 70 x 70 cm (€ 89).