Seit dem 22. Februar 2022 lernen wir ständig neue Städtenamen, geht unser Blick nach Ostern in ein Land, das zu Europa gehört, aber von dem wir nicht viel wussten, so ging es mir jedenfalls. Es gab eine Vogue Ukraine, eine FashionWeek Ukraine, eine sich entwickelnde kreative Szene und Menschen in unserem Umfeld, die von dorther stammten, aber schon lange hier ganz selbstverständlich leben. So auch Valeriya, mein Talkgast aus Cherson, nah am Schwarzen Meer zwischen Odessa und der Krim gelegen, seit vielen Monaten Schauplatz heftiger Kriegshandlungen.

Das Foto zeigt Valeriya vor vielen Jahren mit ihrem Vater in ihrem Garten in Cherson, vor dem Haus, das schon die Großeltern bewohnten, nebenan hatte der Bruder gerade gebaut. Der Vater ist dort geblieben, ist mittlerweile 78, gießt seine Blumen, will nicht weg. Der Bruder ist auf dramatische Weise über Russland geflohen, die Mutter durch den Bombenhagel über Rumänen.

Wo fange ich an mit dem Gespräch? Ein lauer Sommerabend, die Tür steht halb geöffnet, die Geräusche der Straßen dringen herein, bei uns in der Poolstrasse 30 ist eine heitere Atmosphäre, viele sind gekommen. Die Stangen und Puppen habe ich mit Vyshyvankas dekoriert, den traditionellen Blusen der Ukraine, Glück sollen sie bringen. Seit einigen Jahren werden sie getragen als ein Zeichen der nationalen Identität, vom mir sind sie modisch interpretiert.

Original Vyshyvanka (€ 298, davon € 100 als Spende nach Cherson/Ukraine).

Ein Satz fällt mir ein über den 2. Weltkrieg: „Während die Menschen in Florida surften, starben die Soldaten vor Staligrad.“ Die Gleichzeitig von Freude und Leid, so wie hier in dem Beisammensein. Ein Jahr lang war die Freundin, wie ich sie nennen möchte, unser Gast bei vielen IT’S A DIENSTAGEN. Sie nahm es als Ablenkung von den Sorgen um die Angehörigen. Es wurde ein „geschützter“ Raum, in dem sie für einen Moment ein unbeschwertes Miteinander genießen konnte.

Sie beginnt zu erzählen, ruhig und gefasst, intelligent, wie jemand, der viel über alles und das Leben an sich nachdenkt. Ich sitze neben ihr und spüre ihre Gänsehaut bei einigen Sätzen. Am 6. Juni explodierte der Kachowka Staudamm und überschwemmte das ganze Gebiet mit den Dörfern und Städten am Dnipro, dem drittlängsten Fluss Europas.

Die Datscha der Mutter auf der anderen Seite der zerstörten Antoniwka-Brücke stand komplett unter Wasser. Valeriya beschreibt das Haus ihrer Kindheit, die Terrasse, die Holzvertäfelung mit den Gardinen vor dem Fenster. Das Wasser ist mittlerweile zurückgegangen. Kadaver von Menschen und Tieren liegen in dem Schlamm, genauso wie das Hab und Gut ganzer Existenzen. Sinnlos und grausam vernichtet.

Dort, wo man einst baden könnte, riecht es nun nach Verwesung, zusammen mit der Sommerhitze der ideale Nährboden für Infektionen und Seuchen. Es gibt nichts zu essen und zu trinken. Wer keinen russischen Pass besitzt, dem wird in den besetzten Gebieten nicht geholfen.

Gebannt folgen wir den Schilderungen. Es ist etwas anderes, davon zu lesen, als es hautnah zu hören. Was wird plötzlich wichtig? Die Stimme des Vaters am Telefon, er lebt. Er erzählt ihr beinahe täglich, was passiert, wie er den Nachbarn hilft ohne Held zu sein, es ist sein Alltag, sie stehen zusammen. Valeriyas Schwägerin ist zurück mit ihrem Kind nach Odessa, es ist ihre Heimat.

Schon auf unserem letzten IT’S A DIENSTAG als es um das Abenteuer ging, fiel der Begriff „Heimat“. Es ist der Ort, wo die Menschen sind, die wir lieben. In diesem Fall ist die Ukraine mit dem Vater in seinem Garten vor dem Haus seiner Eltern und Großeltern. Morgen kann es zerstört sein, aber noch ist er da. Das Verhältnis zu ihm hat sich gewandelt, es ist eng geworden, innig und voller Respekt.

Valeriya hält ein gerahmtes Foto aus USA Today hoch, das in der Mitte ihren Vater zeigt, der protestierend auf die Straße ging als das noch möglich war. „Wird es Friedensverhandlungen mit Zugeständissen geben?“, wird gefragt. – „Nein“, ist die klare Antwort, „die Ukraine muss siegen, damit sie langfristig frei ist.“

Sie sagt es mit einer tiefen Überzeugung, ohne blinden Patriotismus. Putins Angriffskrieg hat ein Land zerstört, das sich im Aufbruch befand, das nun geeint wird von einem Präsidenten, der sich jeden Tag an sein Volk wendet, es zusammenhält. Die Ukraine will als Ganzes bleiben. Es gibt keinen gerechten Krieg! Und einen Barmherzigen schon gar nicht!

Früher hatte sie oft ein schlechtes Gewissen, hier im Wohlstand zu leben, Karriere zu machen, eine Familie, ein Haus. Nun weiß sie, wofür es gut ist, sie kann helfen. Wir diskutieren, was möglich ist. Roland sitzt zwischen uns, er hat Erfahrung, hat eine Stiftung gegründet, weit über 100.000€ eingesammelt, fährt regelmäßig rüber mit Hilfsgütern. Wir alle haben unsere Netzwerke, die wir aktivieren können.

Bevor die Gäste kamen, haben Valeriya und ich über die Veränderungen gesprochen, die mit uns Menschen geschehen, die wir direkt und indirekt Zeugen der Zerstörungen, Verwüstungen und Folter sind. Das ist es, was diesen Abend so außergewöhnlich machte, wir fühlten uns beteiligt in einer Weise, die das Herz berührt.

Die UN führt eine Liste von aktuell 111 Kriegen auf der Welt. Die meisten davon kennen wir nicht, können wir uns nicht vorstellen. Valeriya hat uns den wohl Gefährlichsten und Zerstörerischten auf eine offene und persönliche Weise nahegebracht.

Wir haben neue Bilder im Kopf: der Vater, der die Blumen gießt, die Tochter des Freundes, die mit ihrem vierjährigen Kind auf dem Dach inmitten der Überschwemmungen viele Stunden ausharrte, keiner half, es wurde geschossen. Ein Fluss, in dem man einst Baden konnte, in dem nun Leichen treiben, und eine Terrasse, auf der im Sommer alte Volkslieder gesungen wurden, hinter der sich heute die Soldaten verschanzen.

Trotzdem seht Ihr uns lächeln auf den Bildern. Wir versuchen aus der Betroffenheit in ein Handeln zu kommen: #stand with Ukraine. Lasst uns helfen. Ich weiß von einem LKW, der wöchentlich nach Cherson fährt, Kay von der Strandkorb-Manufaktur hat gerade Wasserflaschen dorthin geschickt. Vielleicht macht er es ein zweites Mal.

Es fehlt an allem, an Medikamenten. Schreibt mir. Schenkt Euch eine Vyshyvanka, ich habe schon fünf und trage sie gerne. Ein Teil von jedem Verkauf wird an Valeriya gehen, die es dorthin leitet, wo es dringend gebraucht wird.