Bücher müssen einen finden, das betrifft sowohl den Ort, wie auch die Zeit. Das kleine Heft mit dem Essay von Hannah Arendt „Die Freiheit, frei zu sein“, 1967 verfasst, besitze ich schon lange. Es verbarg sich irgendwie zwischen anderen Büchern und fiel mir vor ein paar Tagen beim Aufräumen in die Hände.
Nicht gerade die klassische Strandlektüre, und dennoch nicht schwer zu lesen. Man braucht allerdings die Muße, um zu verinnerlichen, was die große Denkerin des 20. Jahrhunderts so trefflich in Worte fasst. Schon gleich die ersten Sätze packen mich und können kaum brisanter sein. Arendt bezieht sich auf das Scheitern der Invasion in der Schweinebucht (1961), ich denke an das aktuelle Geschehen in so vielen Ländern:
„Der Fehler bestand darin, dass man nicht begriffen hat, was es bedeutet, wenn eine verarmte Bevölkerung in einem rückständigen Land, in dem die Korruption das Ausmaß völliger Verdorbenheit erreicht hat, plötzlich befreit wird, nicht von der Armut, sondern von der Undeutlichkeit und damit der Unbegreiflichkeit des eigenen Elends; was es bedeutet, wenn die Leute merken, dass zum ersten Mal offen über ihre Lage debattiert wird, und wenn sie eingeladen sind, sich an dieser Diskussion zu beteiligen; und was es heißt, wenn man sie in ihre Hauptstadt bringt, die sie nie zuvor gesehen haben, und ihnen sagt: Diese Straßen, diese Gebäude, diese Plätze, das gehört alles euch, das ist eurer Besitz und damit auch euer Stolz …“
Für Hannah Arendt hat der Begriff „Revolution“ seinen Anfang in der Französischen Revolution von 1789 und spielt seither eine wichtige Rolle. „Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr“, wie Immanuel Kant schrieb.
Zuvor besaß „Revolution“ eine astronomische Bedeutung, weswegen ich zum Lesen in die Kopernikus-Bluse geschlüpft bin (typisch Modedesignerin). Ich blättere zur nächsten Seite, kringele Wörter und Satzfetzen ein wie „Befreiung und Freiheit“, und dann wird es spannend und „kompliziert“ zugleich für Hannah Arendt, wenn die Befreiung von Unterdrückung und Elend zwangsläufig zu einer Freiheit des (politischen) Gestaltens führt.
Faszinierend, ich nehme es sogar universell! Und schon umkreise ich den nächsten Begriff, die „hommes des lettres“, die Männer in Europa und in den Vereinigten Staaten, die bei der Antike zu stöbern begannen, um die Lehren der Griechen und Römer wie einen Schatz zu heben, der sich auf alle Jahrhunderte übertragen ließ für eine konstitutionelle Verfassung: Frei sein für einen Neuanfang.
Das Büchlein besitzt gerade mal 41 Seiten mit einem Nachwort. Es ist wert „zerlesen“ zu werden mit Eselsohren und Randbemerkungen, mit Sand zwischen den Seiten und Marmelade-Flecken vom Frühstück. Es passt in die Hosentasche oder klemmt sich unter dem Arm. Man liest es in der Bahn oder auf der Parkbank, egal, man liest einfach, wieder und wieder … – Es ist ein Vermächtnis, wie so vieles bei Hannah Arendt.
„Was ist Freiheit, und was bedeutet sie uns? Begreifen wir sie nur als Abwesenheit von Furcht und von Zwängen, oder meint Freiheit nicht vielmehr auch, sich an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen, eine eigene politische Stimme zu haben, um von anderen gehört, erkannt und schließlich erinnert zu werden? Und: Haben wir sie einfach, oder wer gibt sie uns, kann man sie uns auch wieder wegnehmen?“
Hannah Arendt. Die Freiheit, frei zu sein, DTV, Deutsche Erstausgabe 2018.
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