Zu Zum Glück wissen wir nicht, wann wir sterben werden, und doch ist uns der Tod gegenwärtig, egal wie sehr wir ihn verdrängen mögen, er gehört zum Leben. Und so beginnt der dritte Tag auf der Réunion mit den Erinnerungen an eine Begegnung, an einen Ort, ein Lied, einen Brief sowie dem gestrigen Abend.
Pierre Dages und die Maison Bleue sind für mich eins. Wir hatten uns kurz vor meiner Abreise von La Réunion im März 2022 getroffen. Es wurde eine lange Nacht, neben mir Roma, Nico, sein Sohn, die Freundin, seine Frau, die sich ab-und-an dazugesellte und wieder ging.
Es wurde viel getrunken, er erzählte mir sein Leben und übertrug mir etwas, das noch viel mehr war als seine tiefe Traurigkeit. „Man findet sich auf der Welt“, sagte er zum Schluss, und: „komm schnell wieder“. Nichts deutete darauf hin, dass er Ende Oktober tot sein würde.
Ich schrieb seiner Frau Sylvie einen Brief, der seitdem auf ihrem Nachttisch liegt neben einem Bild von Pierre. Sie konnte endlich wieder weinen. Nun begegneten wir uns beiden Frauen, die wir uns kaum kannten, und sie suchte das Gespräch, erzählte davon, dass das Leben und das Miteinander ein Geschenk sei, dass mit dem Tod nichts aufhört, dass sie die Versatzstücke der Liebe sammeln muss.
Sie will ein Buch darüberschreiben. Und noch an dem Abend führt sie uns in ihr Arbeitszimmer, von dem aus man auf den Ozean blickt. Die Regale sind mit Büchern gefüllt, an einer Seite ganz unten steht die bunte Reihe ihrer Tagebücher. Sie liest uns vor, Roma und mir, die Passage, als sie von dem plötzlichen Tod ihres Mannes erfuhr. Klar ist ihre Sprache, knapp die Sätze und doch so weiblich im Rhythmus wie die Klänge des Meeres. Ein Moment der innigen Verbundenheit.
Am nächsten Tag und damit dem dritten meiner Reise besuchen wir das Grab von Pierre, eine kahle Steinplatte, die wir mit Blumen bedecken. Auch hier hört man das Donnern des Indischen Ozeans, inhaliert den Duft der Frangipanier (west-indischer Jasmin).
Wir halten inne, nehmen uns bei der Hand, ohne traurig zu sein. Das Leben ist ein Kreislauf, selten ist es so gegenwärtig wie an diesem Ort. Leise summe ich sein Lied, das mich seit einem Jahr begleitet: C’est une Maison bleue …
Später sitzen wir im Auto, hören Rodriguez „Thinking of you“. Es ist ein sehr emotionaler Moment, unbemerkt fließen mir die Tränen über das Gesicht, während Roma und Nico mich zu einem besonderen Ort führen, man nennt ihn Vortex Energetique. Menschen haben hier kleine Pyramiden aus Steinen gebaut, überfall sieht man sie.
Roma errichtet ihren Stapel, ich den meinen (den ersten in meinem Leben). Geduldig (sonst nicht meine Stärke) setze ich Steinchen auf Stein.
„Vortex“ bedeutet „Öffnung“, erklärt mir meine Tochter, es kann in eine andere Galaxie führen oder in die Ewigkeit.
Während ich all dieses schreibe und mich dabei in meinen Erinnerungen verfange, ist es schon der nächste Tag. Es regnet, dieser warme tropische Regen. Ich sitze unter dem Dach des „Kiosk Tailandé“, Roma und Nico schlafen noch…
Sylvie wird ihr Buch schreiben und sich damit wiederfinden in ihrem Leben, so wie es die Frauen über all die Jahrhunderte gemacht haben.
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