30 Jahre Wiedervereinigung. Wie die Zeit vergeht. Ich wähle erneut einen Titel der Süddeutschen Zeitung als Inspiration für mein persönliches Tagebuch: 9. November 1989, Schicksalstag der Deutschen. Zusammen mit einem Freund nehmen wir den Flieger nach Berlin, um nur wenige Stunden später über die gerade geöffneten Checkpoints zu wandern. Auf der Mauer sitzen Menschen, überall laufen junge Leute, Pärchen hand-in-hand, rollen Trabis langsam Richtung Grenze, um dann doch wieder ängstlich zu stoppen. Scheinwerferlichter rundherum. Ich fühle mich als Teil der Geschichte.

Ein Jahr später der 3. Oktober 1990, der merkwürdige neue Nationalfeiertag. Der Freund ist auf Nimmerwiedersehen verschwunden, stattdessen stelle ich meinen zukünftigen Ehemann den Freunden vor, Künstlertreffen, Ausstellungen, Bücherschreiben. Ich erinnere mich noch an die Reden, Willi Brandt neben Helmut Kohl, Richard von Weizsäcker, das Beton-Lächeln von Hannelore, Fahnen und wieder Scheinwerfer.

In den Wirren schreibe ich einen Kunstreise-Führer über Berlin, das gesamte Berlin. Straßenschilder mit Name wie Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht sind übersprüht. Keiner kennt sich mehr aus. Erste West-Galerien siedeln sich an. Wir fahren mit einem Taxi kreuz und quer und landen vor besetzten Häusern, die zu neuen Ausstellungsräumen erklärt werden. Was heute gilt, kann morgen schon wieder aufgehoben sein, das betrifft auch die Museum und Sammlungen. Was landet wo?

Abb: Bonjour ihr süßen Zaubermäuse, Adalbertstraße, Berlin, 1990; Foto: Sibylle Bergemann

Die Jahre verschwimmen. Ich schreibe kein Tagebuch. Es gibt keinen Koffer mehr in Berlin, stattdessen bin ich selbst zur „Hausbesetzerin“ geworden. Ausstellungen im Elbschlösschen mit Künstlern aus Berlin, aus Köln, Frankreich und den USA „Love Again“. Arafat will mit dem Hubschrauber im Garten landen. Filmproduktion. Schwanger. Heirat. Ich arbeite viel zu viel, aber es ist aufregend.

3. Oktober 1997. Toska ist gerade geboren, Roma ist drei Jahre alt. Meine letzte Ausstellung sollte „Des Kaiser’s neue Kleider“ heißen. Ich habe keine Lust mehr auf die Kunst, Devotionalienhandel, ich wollte etwas anderes. Wieder einmal ziehe ich mich aus vielem heraus, springe von dem Außenseiter-sein in das nächste Außenseiter-sein und konzentriere ich auf Filmproduktion.

3. Oktober 2000 wir sind gerade auf’s Land gezogen, in ein Herrenhaus mit 12.000 qm Park rundherum. Mein Traum, dafür habe ich über vier Monate wöchentlich einen Brief an die Eigentümer geschrieben. Wir verabreden, dass wir Mieter werden können, wenn die Briefe nicht aufhören.

Abb.: First Roma e Toska ever, 2001

3. Oktober 2001. Sinnkrise mit 40. Keine Lust mehr auf Filme. Ich will Schriftstellerin werden, das wollte ich schon als Kind. Ich stehe morgens früh auf und wähle aus den 14 Zimmern eines, das meine Schreibstube wird. Nach mühseligen Wochen ernte ich die vernichtende Kritik meines Mannes: Begraben, begießen, vergessen. Was fange ich bloß mit mir an. Es sind düstere Monate.

Zum Glück brauchen wir Kostüme für eine Serie, die ich entwerfen möchte. Eine Nähmaschine, alte Jeans aus der Roma rausgewachsen ist, ein Fetzen Stoff, so beginnt die Geschichte von Roma e Toska mit Nächten, in denen ich für die Töchter, Püppies und die Freundinnen aus der Schule entwerfe und schneidere.

3. Oktober 2002. Meine erste „Kollektion“ hängt in einem Geschäft in München. Ich werde entdeckt. Und von da ab achte ich nicht mehr auf die Wochentage und die Jahre. Ich bin grenzenlos gefordert: Ehefrau, Mutter, Filmproduzentin und Mode-Designerin. Es ist irre und irgendwie herrlich zugleich.

3. Oktober 2004. Wir tauschen das Herrenhaus gegen ein Loft, das nicht beheizt wird. Schluss mit prächtig, kommt mir gerade doppelt bekannt vor. Die Kinder dürfen die Wände bemalen und Rollschuh drinnen fahren, ich habe mein Reich mit Atelier.

3. Oktober 2008. Lehman Brothers hatte zwei Wochen zuvor Insolvenz angemeldet. Die Märkte brachen zusammen, falsch von mir analysiert, ich saß gerade an einer exklusiv Kollektion für ein Moskauer Luxusgeschäft. Alles wurde storniert, Geschäfte zahlten nicht mehr. Gab schon mal bessere Zeiten. Legendärer der Satz: Was sollen wir den tragen, wenn es Roma e Toska nicht mehr gibt?!

3. Oktober 2009. Roma e Toska wird GmbH. Neuer Partner, aber die „Hochzeitsnacht“ haben wir nicht gut überlebt, es passte nicht, einzig, ich konnte weiterarbeiten. Immerhin. Töchter in der Pubertät, Filmgeschäft aufgegeben, Blickrichtung nach vorn, irgendwie wird es funktionieren. Und bevor es langweilig wird, überspringe ich eben mal ein paar Nationalfeiertage, lass meine beiden Töchter das Abitur machen, Philosophie studieren, überlebe die eine oder andere Krise und sitze nun hier, 30 Jahre später. Wie sagte schon Karl Lagerfeld, oder war Coco Chanel einige Jahre zuvor: always different, always the same.

3. Oktober 2015. Mit einer wunderbaren Gruppe von Investoren stemmen wir den Wechsel in die Women’s Fashion und den ersten Flagship Store.

3. Oktober 2016. Vor einem Monat wurde die MILCHSTRASSE 11 eröffnet mit über 500 Gästen. Was für ein Start.

3. Oktober 2020. Dreißig Jahre später. Wieder gilt es, in die Zeit hineinzuhorchen, wohin der Weg führen kann. Meine Skizzenbücher sind meine Tagebücher geworden, meine Freunde und Familie meine Sparringspartner. Fashion ist mein Ausdrucksmittel geblieben, im Einklang mit der Kunst und dem Leben. Das ist schon mal eine Menge. Für den Rest gilt: Neu erfinden und sich selbst treu blieben.