Gestern in den Abend Nachrichten traute ich meinen Augen nicht, das ist doch Franz, Franz Erhard Walther, der alte Freund, meine große Leitfigur für den Weg in die zeitgenössische Kunst, in das Sehen, die Erweiterung des Kunstbegriffes … der nun dort stand mit roten Bäckchen, Bäuchlein und ergriffenem Lächeln, um sich für den Goldenen Bären der Biennale zu bedanken. Mensch Franz! Ich dachte schon, die Welt hätte Dich vergessen! Aber hat sie nicht, sie hat sich besonnen auf einen der ganz Wichtigen, der die Kunst in die Zeit, den Ort, die Bewegung und die (Inter-)Aktion ausgedehnt hat.

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Seine erste Werkzeichnung, noch auf der Studiengebühr-Mahnung der Frankfurter Akademie, besaß ich einmal. Nun hat sie der Anwalt, der mich so wunderbar in das jetzige Unternehmen Roma e Toska begleitet hat. An meiner Wand in meinen kleinen Atelier hängt die große frühe Arbeit von 1959: Reißungen auf Pappe mit Staub. Die Hamburger Kunsthalle wollte sie kaufen, konnte sich aber nicht entscheiden, und nun bleibt sie (!), weil sie sowieso immer neben meinem Schreibtisch hing, egal, wo der Schreibtisch in meinem kreativen Leben stand: still, souverän, viel mehr als ein künstlerisches Postulat.

Franz Erhard WaltherAtelier Franz Erhard Walther

DIENSTAG, 16. MAI 2017
FEUILLETON FAZ
Sie dürfen sich anlehnen!
Der Goldene Löwe von Venedig ging an Franz Erhard Walther. Porträt eines langsam aus dem Schatten der Nachkriegskunst tretenden Riesen.

VENEDIG, im Mai

Was haben die Kommilitonen über ihn gelacht in Karl Otto Götz’ Klasse an der Düsseldorfer Kunstakademie – Sigmar Polke, Gerhard Richter, Blinky Palermo und die anderen, als Franz Erhard Walther seine Luftkissen aus Pappmaché zeigte oder mit den ersten Objekten aus Stoff ankam wie „Stirnstück“, einem Kissen an der Wand, das dazu einlädt, dort, wo sonst ein Bild hängt, die Stirn anzulehnen. Aus der Frankfurter Städelschule hatten sie ihn rausgeschmissen, und Joseph Beuys machte sich auch lustig. Dabei beweist Walthers eigenwilliges Konzept, nach dem sich seine „Werkstücke“ erst dann zu Kunstwerken vervollständigen, wenn der Betrachter mit ihnen interagiert, eine nachhaltigere Wirkung als Beuys’ ideologische Verlautbarungen und seine mit Narration und Expressivität aufgeladenen Filz- und Fettstücke.

Niemand verstand damals, was an Stoffobjekten in langweiligen Farben Kunst sein sollte. Feierte man nicht gerade die Auflösung des Objekts in Fluxus und Happening? Noch in den Achtzigern gähnten viele, als der mehrfache Documenta-Teilnehmer nach vielen trag-, überstülp- und hineinschlüpfbaren Objekten mit seinen „Wandformationen“ plötzlich wieder den Rückzug ins Tafelbild anzutreten schien. Was für ein Irrtum: Eher brachten sie den Raum zum Schweben. In der von Christine Macel kuratierten Hauptausstellung der am Samstag eröffneten Venedig-Biennale sind Walthers „Wandformationen“ aus mit Pappe verstärktem Nesselstoff in leuchtendem Gelb und warmen Rot- und Grüntönen ein Höhepunkt an Eigenlogik und formaler Präzision. Wenn Walther selbst vorführt, wie man in den Kabinen oder auf den stählernen „Standsockeln“ Platz nimmt, ist der Raum gespannt vor Konzentration, auch weil hier nicht klar ist, was eigentlich vor sich geht: Der dem Lauf der Zeit unterworfene Körper und die überdauernden Objekte treffen sich in einem sonderbaren Zwischenraum, halb materiell, halb virtuell.

Manchmal braucht es eben den historischen Abstand, um die Tragweite eines künstlerischen Entwurfs zu erkennen. Der 1939 geborene Franz Erhard Walther, der jahrzehntelang mit aufwendigen Diagrammen, Zeichnungen und Vorträgen sein Werk gegen Missverständnisse verteidigte, genießt seit etwa fünfzehn Jahren das Glück, der Ernte beizuwohnen. Junge Kuratoren stehen bei dem Pionier der partizipativen Kunst Schlange, und bei Vorträgen passen die herbeiströmenden Kunststudenten kaum in die Säle. Der Reigen seiner Retrospektiven macht bis September im Madrider Museum Reina Sofía Station, und in Deutschland sind gerade Arbeiten in einer Gruppenschau in der Heilbronner Kunsthalle Vogelmann und von Anfang Juni an im Ludwig Forum Aachen zu sehen, wo ihm der Kunstpreis Aachen verliehen wird.

Nachdem im vergangenen Jahr Walthers von Kellnern des Park Hyatt getragene orangefarbene „Halbierte Westen“ zu den Höhepunkten der Manifesta in Zürich gehörten, ist er jetzt zum ersten Mal in Venedig. Dass er direkt den Goldenen Löwen mit nach Hause bringt, ist auch ein gutes Zeichen dafür, dass man sich in der Kunstwelt durchaus auch weiterhin auf Qualität verständigen kann.

Meistens arbeitet Walther am langen Arbeitstisch im lichten Atelier am Fuldaer Klosterberg in mönchischer Ruhe vor sich hin, während seine Exfrau Johanna auch nach fünfzig Jahren in ihrem Studio in der Rhön duldsam an der Nähmaschine seine Entwürfe in Skulpturen übersetzt und seine Frau Susanne in Koordination mit drei Galerien die Geschäfte leitet. Das so geschlechtslos anmutende Werk dieses Mannes verdankt sich entscheidend seinen Frauen, denen er denn auch am Samstagmorgen bei der Preisverleihung dankte.

Anschließend gab der Geehrte in den sonnendurchfluteten Giardini an einer der Tafeln, an denen Biennale-Kuratorin Christine Macel bei Sekt und Tintenfisch-Paella Besucher zu Gesprächen mit den Künstlern lädt, Auskunft: wie Jackson Pollock und das Informel ihn zur Erweiterung des klassischen Skulpturbegriffs durch Zeit und Handlung inspirierten. Und wie er in den sechziger Jahren nach New York auswanderte, wo er zwischen Walter de Maria und Robert Morris endlich Verständnis fand.

Wie erklärt sich Walther das neue Interesse der nach 1970 Geborenen? „Ich weiß es nicht. Vielleicht spüren die Leute, dass die Malerei erschöpft ist. Jedenfalls fällt mir auf, dass es ein großes Interesse an der Idee gibt, dass ein Werk Handlung enthalten kann, Aktion.“ Dieses Interesse teilt auch die lange Reihe seiner Schüler an der Hamburger Kunsthochschule: Martin Kippenberger, Santiago Sierra, Rebecca Horn, Tino Sehgal, Christian Jankowski – alle arbeiteten und arbeiten, und zwar höchst unterschiedlich, am Aufbrechen des Einzelwerks und seiner wechselseitigen Aufladung mit der sozialen Wirklichkeit.

Die Spuren Walthers durchziehen auch diese Biennale: Der in der Hauptausstellung vorgestellte Franz West wollte, dass man seine „Passstücke“ in die Hand nimmt, und im österreichischen Pavillon zeigt Erwin Wurm mit seinen „One Minute Sculptures“ einmal mehr seine kleinbürgerlich-ordinäre Jahrmarktversion von Walther.

Mit seinem modularen Werkkonzept, in dem jedes Element nur vorläufiger Teil eines nie abschließbaren Werks ist, hat Walther das digitale Orientierungsgefühl vorweggenommen, in dem keine Setzung abschließend ist und Inhalte fortwährend den Kontext wechseln. Damit ist auch Anne Imhof eine Erbin Walthers, deren Installation aus gläsernen Böden, grauen Monochromen, Seifenstücken und E-Gitarre ruhendes Potential ist, bis sie in der Aufführung aktiviert wird. Walther stimmt zu, unter Vorbehalt: Zielen Imhofs Inszenierungen auch immer gleich auf ihr mediales Abbild, so sind Walthers Werkhandlungen in erster Linie nicht für Zuschauer gedacht. Seine Formen sind wie Elemente eines Zeichensystems, die Skulptur, Malerei, Installation, Zeichnung, Handlung und Sprache durchlaufen, ohne je in einem Medium aufzugehen. Sie beharren auf ihrer sinnlichen Präsenz und stehen zugleich mit einem Bein im Virtuellen, Imaginären. Diese Unentschiedenheit wurde Walther vor fünfzig Jahren noch zum Vorwurf gemacht. Heute ist sie der Grund, auf dem Künstler aufbauen können. Kolja Reichert