Mein Plan für die Zukunft: Jeden Monat eine Bildbesprechung. Meine Sparringspartnerin dafür, Dr. Karen Michels, ist mir für diesen August abhanden gekommen, sie tourt in Kopenhagen herum. Ich bin also auf mich gestellt in der Betrachtung, wie wir meistens, wenn wir vor der Kunst stehen. Lassen wir uns also einfach ein, schauen genau hin und assoziieren ein wenig mit unseren Seherfahrungen.

An der Wand hängt eine kleine Arbeit von Claudia Rößger (1977*), der Künstlerin aus Leipzig, die ich dem Galeristen Thomas Holthoff wahrlich „abgeschnackt“ habe. Er wollte sie für die Messe in Berlin, ich wollte sie in meinen Räumen zeigen, ein bißchen in meiner Nähe genießen. So fängt es an mit der Kunst, emotional! Das Bild heißt „Lilie“ und ist von 2019.

Karen hätte nun sicherlich ikongraphisch einen Ausflug durch die Kunstgeschichte gemacht. Die Lilie ist ein gängiges Motiv und steht für die Jungfräulichkeit. Ich denke an Jan van Eyck, den kleinen Garten hinter der Madonna des Kanzlers Nicolas Rolin (1435), die Postkarte dazu hängt über meinem Schreibtisch an der Wand. Maria hält das Baby auf dem Schoß, aber die weiße Lilie hinter ihr macht deutlich: die Empfängnis war unbefleckt.

Wer auch immer fortan die Lilie malte, ob Monet oder Manet, van Gogh, Georgia O’Keeffe, Egon Schiele oder KarlSchmidt-Rottluff, die Lilie weiß, rot oder orange, im Wasser, in der Vase oder ganz abstrakt, keiner konnte sich der sexuellen Vieldeutigkeit dieses Motives entziehen.

Claudie Monet. Detail Lilie.

Zurück zu der Lilie von Claudia Rößger, die aufgrund ihrer Größe zunächst bescheiden wirkt, so wie die Künstlerin selbst, die sich perfekt im Understatement übt, wenn sie von ihrem Malprozess spricht. Vielleicht mag ich sie gerade deswegen so gern. Trotzdem weit gefehlt, diese Blume hat es in sich.

Aggressiv führt Rößger den Pinsel mit einem breiten, beinahe wütenden Schwung. Heftig drängen die Linien von einer leicht geneigten Mittelachse zu den Seiten und weiter nach oben. Grün und blau kreuzen sich, pastos und dann wieder dünn auslaufend. Es entsteht ein vibrierender Rhythmus, der von horizontalen blutroten züngelnden Strichen unterstützt wird.

Das Weiß dazwischen wirkt keineswegs beruhigend, sondern zieht schäumend, ständig seine Malrichtung ändernd, über die satten leuchtenden Farben hinweg. Das Bild gipfelt in der Blüte, es gleicht einer Explosion der Farben, komplementär mit rot und grün, von dunklen Linien gehalten. Dazwischen ein böses, oder sollte ich lieber „verwundbares“ Gelb sagen? Pinsel und Ölfarbe maträtieren die dünne Pappe.

Der Spuk vor dem inneren Auge des Betrachters dauert wenige Minuten, dann wird es still. Die Komposition blanciert sich aus. Braune Streifen, ein blauer Balken am rechten Rand, zwei dunkle schwarze Rechtecke, die von oben in das Bild hineinragen. Was sich soeben entladen hat, wird von einem dünnen Rahmen beschwichtigend gehalten. Es tritt wieder Ruhe ein.

War es das kurze Aufgehren von Frau-sein, in all seiner Verletztlichkeit, oder von einem zügellosen Sich-zeigen? Nur um dann wieder zu einem Blumenstillleben an der Wand zu werden, mit dem Hund auf dem roten Sofa schlafend davor. Claudia Rößger, Lilie, 2019, Öl auf Pappe, gerahmt, 42 x 30 cm, € 2.100. Ich mag es sehr!