Das Titelbild entstand ganz spontan, Claudia Rößger lehnte an der Wand, hörte zu, beantwortete Fragen, wir waren im Gespräch. Und plötzlich war da diese verblüffende Ähnlichkeit zu der Zeichnung rechts von ihr, „Filz“, 2021, Kreide auf Papier. Eine junge Frau, die energisch den Kopf wendet, zornig oder zumindest von einer natürlichen Unbeugsamkeit. Ist sie das?
Die Künstlerin aus Leipzig ist über die Pfingsttage bei uns zu Besuch in Kampen. Wir gehen miteinander um, als würden wir uns schon lange kennen, dabei lacht sie mehr, als dass sie ernst dreinschaut. Aber sowie sie beginnt, über Kunst zu sprechen, über ihre Kunst, wird sie konzentriert und formuliert sorgfältig und klug, wie jemand, der sich viele Gedanken macht und ständig weiter hinterfragt.
Auf der pinkfarbenen Ottomane von Paola Lenti liegen ausgebreitet ein paar Zeichnungen, die sie mitgebracht hat. Spontan lege ich einen alten Rahmen darüber, zu viert stehen wir darum, und das Porträt einer Frau beginnt zu erzählen. Leicht ist der Tuschestrich, huscht über die Fläche und taucht ein in das unbekannte Innere.
Claudia schildert, wie sie im Prozess des Malens versucht, in das Wesen einer Person zu schlüpfen. Dafür muss ihr nicht unbedingt jemand Modell sitzen, es reicht die Erinnerung, die sich mit ihrem eigenen Frausein und Menschsein verknüpft.
Ein Foto vor der Wand, „ihrer“ Wand, in der sich die vier Bilder „beheimatet“ haben: „Bravo Ladies“, „Blütenkelch“, „Pinkeln“ und „Salzzauber“, allesamt von 2020, der Coronazeit, die für sie ein anstrengender Rückzug bedeutete, eine vielfache Inanspruchnahme zu Hause. Es sind Arbeiten von ganz besonderer Intensität entstanden.
Die ständigen Übermalungen, die eine Dynamik herstellen, Bewegung und Raum schaffen, wo sonst der reale Raum eleminiert wurde, die Farben sich reduzieren auf rot und weiß. Fehler werden nicht kaschiert, sondern addieren sich zu einer suchenden Komplexität.
Wer ist diese Frau, die sich durch einen imaginären Alltag tanzt? Das kleine Bild „Blütenkelch“ birgt in sich eine Geschichte, die sich leise und unbeirrt fortspinnt. Ich glaube, dieses Werk sollte bei mir bleiben, ich entdecke mich darin wieder.
Christiane Gräfin zu Rantzau (Chairman Christie’s Deutschland) ist vorbeigekommen. Sie ist mit dem Galeristen Thomas Holthoff befreundet, der schon seit langem Claudia Rößger in Hamburg vertritt. Ich konnte ihn über Pfingsten nicht auf die Insel locken, aber er ist präsent in unseren Gesprächen. Wie gern erinnere ich mich, als wir drei bis spät in der Nacht bei ihm in der Küche hockten und diskutierten.
Kugel, 2009, Eitempera und Öl auf Hartfaser, 64 x 49 cm, € 2.800.
Mitgebracht hat Claudia auch ein Leoprello von 19 hochformatigen Motiven zum Thema „Zirkus“, dem „Drahtseilakt“, in dem es um die Bewegung und die Balance geht, zwei ihrer großen Themen.
Claudia Rößger, Leporello „Up and down“, 2020, Auflage 50, € 200.
Am Ende kommt noch Madame La Petite vorbei, gerade eingeflogen aus Genf vom Treffen der World Health Assembly mit 194 Mitgliedsstaaten. Gemeinsam sitzen die beiden auf dem roten Sofa, dahinter „Hartmut im Salz“, 2018 (€ 1.200) und „Ruhen“, 2020 (€ 1.500).
Erneut geht es um den Beutel, als eines der ersten Werkzeuge der Evolution, um das Sammeln und was es alles bedingt. Ich hatte berichtet, Bettina hatte mir das Buch empfohlen. Ohne Umschweife sind wir gefesselt in dem Thema: die Dinge sich aneignen, das Leben als Stückwerk zusammenpusseln und die Wege dafür offenlegen. Genau wie es Claudia Rößger in ihrer Malerei macht.
Und wieder ist es so, dass wir reden und zuhören, dass wir erklären und problematisieren. Wo es anfängt, ist egal, dass es nicht endet, ist wichtig. Und dafür gibt es die Kunst, die gute, die weit über das Dekorative hinausgeht.
Nachher setzen wir es fort … im Strandkorb. Claudia ist heute noch bei uns in Kampen auf Sylt (12 – 17 Uhr). Und morgen wird sie zum IT’S A DIENSTAG unser Talkgast sein.
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