Die Kunstgeschichte ist eine relativ junge Geisteswissenschaft, die erst im 19. Jahrhundert entstand. Sie brauchte ein Werkzeug, etwas Handfestes, mit dem man ein Werk erfassen und bewerten kann. Unser Vorbild dafür ist Erwin Panofsky (1892 – 1968), einer der großen Kunsthistoriker, der uns das Beschreiben lehrt, so als wisse man nichts, als käme man aus einem anderen Kulturkreis. Spielen wir es einfach mal durch, an meiner Seite Dr. habil. Karen Michels, hinter uns „Bravo Ladies“ von Claudia Rößger. Was sehen wir?

Zwei Hände legen sich übereinander, ohne deckungsgleich zu sein. Sie scheinen sogar unterschiedlich groß. Von der einen sehen wir die Außenseite, von der anderen die Innenseite. Nagellack ist auf den Fingernägeln, dass man von einer weiblicher Hand ausgehen kann. Der eine Daumen ist abgespreizt. Die Arme stecken in einem blauen Gewand, das sich zum Handgelenk verengt. Der Hintergrund ist rot, wässrig und fleckenhaft aufgetragen. Dazwischen weiße Übermalung sowie unbedeckte Leinwand. Hell und Dunkel deuten einen Lichteinfall an.

Soweit in wenigen Worten, was wir sehen. Wir sind Detektive, die die Indizien sortieren, sorgfältig aufpassen, dass uns nicht die Gedanken und Assoziationen sofort davongaloppieren. Aber wir besitzen wie alle Menschenein ein kollektives Bildergedächtnis. Die Hände erinnern natürlich an die Hände von Albrecht Dürer.

Albrecht Dürer, Betende Hände, 1508

Dort sind es gefurchte Männerhände, die eines Apostels, leicht übereinandergelegt wie in dem Bild von Claudia Rößger. Dürers Kupferstich hing in jeder deutschen (Nazi) Stube. Das Werk wurde oft frömmelnd verklärt, gehört zu den Inkunabel der Kunstgeschichte. Schon wird unser Gemälde an der pinken Wind vielschichtig, greift in die Vergangenheit, kreist um Gender-Fragen, thematisiert das Weibliche.

Sind es in diesem Bild ebenfalls betende Hände oder applaudieren sie, wie der Titel vermuten ließe? Sind es vielleicht die Hände von zwei Personen, Mann und Frau, Frau und Frau oder zwei Wesen in einem, die sich gar zum Tanz berühren? Sind es Hände, die Verbundenheit ausdrücken?

Das Bild ist keine Studie, aber es ist ein Fragment, ein Ausschnitt: Zwei Hände ragen weit in das Bild, die Arme stecken augenscheinlich in einem Pullover, alltäglich, zeitgenössisch. Die Freizeitgarderobe eines Mädchens? Wie alt sind die Hände?

Wir schauen nochmal und nochmal, das Bild gewinnt an emotionaler Dichte und führt in vielfältige Erzählstränge. Dabei haben wir noch gar nicht über das Rot des Hintergrunds gesprochen. Ist es ein Feuerrot oder ein Blutrot, ein erotisches Rot?

Ich muss sofort an Edvard Munch denken, der seine Bilder draußen vor dem Atelier aufstellte, damit sie von der Witterung ausgewaschen wurden. Das Rot erinnert beispielsweise an seine Madonnen-Motive, genauso wie die skizzenhaften Linien und Umrandungen.

„Warum möchte man so ein Bild zu Hause an der Wand hängen haben“, fragt mich Karen. Ich muss nicht lange überlegen: Weil es ein Geheimnis in sich birgt, weil es so viele Dimensionen besitzt, offen bleibt für unterschiedliche Sichtweisen, sich mit dem verändernden Licht ständig wandelt zu etwas Neuem. Es würde mich nicht langweilen.

Eine dreiviertel Stunde ist vergangen, vielleicht auch mehr, und wir könnten immer weiter diskutieren und forschen. „Gute Bilder gucken zurück“, sagt Karen am Ende und bezieht sich auf die „Energetik“ von Bildern, wie sie die Kunstwissenschaftlers Aby Warburg und Horst Bredekamp beschrieben. Sie sind nicht nur passive „Betrachtungsobjekte“, sondern kommunzieren mit dem Gegenüber. Ich stimme zu.

Claudia Rößger, „Bravo Ladies“, 2020. Eitempera und Öl auf Leinwand, 50 x 35 cm, € 2.600