Amerika hat gewählt, die berühmten Zwischenwahlen nach der ersten Hälfe der Regierungszeit, die Midterms. Jeder Politiker verbucht das Ergebnis für seinen Sieg, obwohl es bis auf einen nur Verlierer gab. Die Demokraten besitze keine Mehrheit mehr im Repräsentantenhaus, was das Regieren erheblich schwieriger macht, Trump hat von rechtsaußen eine Ohrfeier erhalten, und dort, ja gerade dort, ist die einzige Freude echt: Ron DeSantis hat in Florida abgeräumt mit einem sensationellen besorgniserregenden Ergebnis.

Ich lese Ece Temelkurans Buch „Wenn Dein Land nicht mehr Dein Land ist oder sieben Schritte in die Diktatur“. Eine Passage daraus spukt mir im Kopf herum: Aristoteles im Gespräch mit dem Populisten. Vorlage ist der berühmte Syllogismus (altgriech.: logische Schlussfolgerung) des Aristoteles, den die Schriftstellerin und Journalistin zum Ausgang nimmt:

„Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich.“

Abbildungen aus Süddeutsche Zeitung, Seite 3, Freitag, der 11.11.2022

ARISTOTELES: Alle Menschen sind sterblich. POPULIST: Das ist eine totalitäre Aussage. ARISTOTELES: Sind Sie nicht der Ansicht, dass alle Menschen sterblich sind? POPULIST: Wird das ein Verhör, Aristoteles? Unterstellen Sie uns, ungebildet zu sein, nur weil wir nicht Bürger sind wie Sie, sondern das Volk? Vielleicht sind wir ja ungebildet, aber dafür kennen wir uns mit dem wahren Leben aus. ARTISTOTELES: Das spielt hier keine Rolle. POPULIST: Ja, für Sie natürlich nicht! Schließlich herrschen Sie und Ihresgleichen hier seit Jahren nach dem Grundsatz, dass das Volk keine Rolle spielt. ARTISTOTELES: Beantworten Sie doch bitte meine Frage! POPULIST: Das Volk in diesem Land sieht die Sache ganz anders. Aber unsere Antwort steht eben auf keinem elitären Papyrus. ARISTOTELES: (Schweigt.) POPULIST: Beweisen Sie es! Beweisen Sie mir, dass alle Menschen sterblich sind! ARTISTOTELES: (Lächelt nervös.) POPULIST: Na bitte – Sie können es nicht beweisen. (Grinst selbstbewusst – eine Methode, die er permanent anwendet, um Aristoteles zu verunsichern.) Aber egal. Unserem Verständnis nach kann nämlich in der Demokratie jede Meingung geäußert werden und wird respektiert. Die Götter sagen … ARISTOTELES: Das ist keine Meinung, das ist eine Tatsache! Außerdem sprechen wir gerade von dem Sterblichen. POPULIST: Wenn es nach Ihnen ginge, würden Sie es wie Ihre Vorgänger machen und jeden Menschen töten, um zu beweisen, dass alle sterblich sind. ARTISTOTELES: Das führt doch zu nichts! POPULIST: Wenn Sie jetzt bitte Ihren Gedanken zu Ende bringen – ich habe Wichtiges zu sagen. ARISTOTELES (seufzend): Alle Menschen sind sterblich, Sokrates ist ein Mensch … POPULIST: Da muss ich Sie kurz unterbrechen. ARISTOTELES: Wieso? POPULIST: Es muss sein. Dank unserem Anführer wissen wir heute genau, wer Sokrates ist. Über diesen üblen Kerl lassen wir uns keine Lügen mehr auftischen! ARISTOTELES: Soll das ein Witz sein? POPULIST: Sie mögen das lustig finden, Herr Aristoteles – wir nicht! Sokrates ist ein Faschist. Das Volk hat endlich die Wahrheit erkannt, die wahre Wahrheit. Das Blatt hat sich gewendet – von Ihnen lässt sich keiner mehr hinters Licht führen! „Also ist Sokrates sterblich“, wollen Sie doch sagen, stimmt’s? Wir haben die Schnauze voll von Ihren Lügen! ARISTOTELES: Sie stellen die Grundlagen der Logik in Abrede! POPULIST: Ich respektiere Ihre Überzeugungen. ARISTOTELES: Das sind keine Überzeugungen, das ist Logik. POPULIST: Ich respektiere Ihre Logik, während sie meine missachten. Das ist das Hauptproblem im heutigen Griechenland.

Auszug aus: Ece Temelkuran. Wenn Dein Land nicht mehr Dein Land ist, Seite 57/58, Hoffmann&Kampe 2021. Die Autorin ist Juristin, Schriftstellerin und Journalistin, 1973 in Izmir/Türkei geboren. Sie musste aufgrund ihrer regierungskritischen Meinung des Land verlassen. Ich hatte das Buch schon begeistert in einem früheren Blog angekündigt.