Geschafft! 24 Türchen im Adventskalender, eines muss noch geschrieben und geöffnet werden. Dafür greife ich tief in die eigene Vergangenheit: unser Tannenbaum am Heiligabend. Mein Vater besaß ein kleines Bauunternehmen und durfte sich in dem Forst eines Geschäftspartners immer einen Baum aussuchen und selbst fällen. Am Tag vor Weihnachten fuhren meine Schwester und ich mit raus, meist war es unangenehm feucht-kalt, aber irgendwie aufregend.
Soll es der sein, nein, der ist doch total schief, der vielleicht hier links, nein, dem fehlen ganz viele Äste, der hat eine krumme Spitze oder gleich zwei davon, auch komisch, und den mögen wir nicht … So ging es eine ganze Weile, bis sich mein Vater ungeduldig einfach einen aussuchte und mit der Axt Hand anlegte. Unbedingt hätte an dieser entscheidenden Stelle meine Mutter anwesend sein müssen, anstatt das Essen vorzubereiten, denn sie war die oberste Richterin von schön und nicht schön, jedenfalls was Weihnachtsbäume anbelangt, und dieser und der im Jahr zuvor und wiederum der im Jahr davor, diese alle waren in ihren Augen niemals schön. Zu verbogen, zu mickrig, zu asymmetrisch, vorne fehlten Zweige … Das Fest der Liebe drohte schon in den frühen Vorbereitungen zu einem Fest der Enttäuschung zu werden. Mein Vater ließ dann immer hilflos die Arme baumeln, wir verzogen die Gesichter.
Abb: Tannenbaum aus meinem Kinder-Fotoalbum
Die Litanei nahm kein Ende, insbesondere da das „modische“ Dekorationskonzept schon vorbereitet auf dem Tisch lag. Mal sollte alles in rot sein, mal überwog Lametta, gehängt wie die stürzenden Fluten von Niagara Falls, mal war alles in silber, mal kunterbunt. Was soll’s, der Baum war da und erhielt nun diverse kosmetische Eingriffe. Äste wurden hinten abgesägt und vorne wieder eingebohrt, bis das Bäumchen prächtig aussah und ein Lächeln in das Gesicht meiner Mutter zauberte. Wenn sie glücklich war, waren wir es auch und halfen beim Hängen mit: Rote Kugeln, kleine Äpfel mit Schleifen, Strohsterne (noch echte aus gebügeltem Stroh), kleine Figürchen aus dem Erzgebirge, rote Kerzen (keine Lichterkette). Vom Plattenspieler tönte Heintje mit „Oh Tannenbaum“ und „Ihr Kinderlein kommet“. Wir machten uns hübsch, das neue Kleidchen, die Lackschuhe, mein Vater im weißen Hemd, meine Mutter in der hochgeknöpften Rüschenbluse.
Und dann wurde der Weihnachtsbaum angezündet und wir staunten und waren selig … bis das arme geliftete Ding nach vorne kippte, die Kugeln zerbrachen und wir in alle Richtungen eilten, um Wasser zu holen, wir im Zahnputzbecher, meine Eltern mit Eimer. Eigentlich zum Brüllen komisch, wäre es nicht so traurig. Zimmermannsnägel wurden in die Wand gehämmert, und der Tannenbaum mit Seglertampen links und rechts verzurrt, neu dekoriert und behängt. Das Lametta war leider nicht mehr so glatt und schön, sondern sah aus, als hätten wir es vom Parkplatz aufgesammelt, auch fehlten ein paar Äpfel, da keiner mehr der Statik traute. Meinem Vater wurde Komplettversagen vorgeworfen und wir Kinder haben ein wenig geheult. Darüber lachen konnten alle erst, als Weihnachten vorbei war. Schade!
Gestern sind wir auf Sylt angekommen und wollten mit dem Dekorieren des Weihnachtsbaumes beginnen. Als mein Mann fragte: „Nehmen wir den, der alleine steht, oder den, der Hilfe braucht?“ stutzte ich. Wiederholt sich hier Geschichte? Nein, egal, wir lieben die Bäumchen, die mit ihrem Grün – ob missgestaltet oder prächtig – uns die nächsten Tage bescheren. Ich wünsche allen eine friedliche, harmonische, besinnliche Weihnachten, und wer Lust hat, besucht uns heute von 11 – 14 Uhr auf einen Drink, einen Plausch um den Tannenbaum mit kleinen Geschenken. Roma e Toska, Alte Dorfstrasse 2, Kampen/Sylt, und in der MILCHSTRASSE 11 in Hamburg.
Andreas Mühe. 2006 (2016), aus der Serie: Weihnachtsbäume. © VG Bild-Kunst, Bonn 2017
PS: Irgendwann kaufe ich mir eine Arbeit des deutschen Fotokünstlers Andreas Mühe aus der Serie „Weihnachtsbäume“, die so sehr den Tannenbäumen meiner Kindheit gleichen.
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