Wieder einmal habe ich ein Türchen im Adventskalender leer gelassen. Dafür gibt es heute gleich zwei Schätze in der Nummer 23. So etwas ist übrigens nicht ungewöhnlich, wer erinnert sich nicht, das manchmal zwei Schokoladen-Figuren verschüttet in einem Kästchen lagen oder sogar unten rausfielen.

Einmal werden wir noch wach … Ich denke an Hänsel und Gretel, die in den Wald geschickt wurden, damit sie nicht zurückkehren konnten. Hänsel hatte eine List, die einmal funktionierte mit den Steinchen als Markierung, aber ein zweites Mal mit den verstreuten Brotkrumen nicht, die Vögel fraßen sie auf. Die Beiden verliefen sich und landeten bei der Hexe.

Über Hänsel und Gretel erzählte ich den Gästen, vorlesen wollte ich es noch nicht. Lange habe ich an dem Text geschrieben. „No direction home“, tippte in als Erstes euphorisch eine WhatsApp an meine Mitautorin Christine Klaubert. „Mit allen Vor- und Nachteilen“, antwortete sie in weiser Voraussicht.

Childhood Lesung in Kampen. Die nächste findet am 4.1.2025, um 16:00 Uhr statt

„Ich umkreise mich selbst, bis ich wieder Hänsel im Wald bin, der es regeln soll, der sich verantwortlich fühlt, seine Schwester und sich zu retten.“ Notierte ich vor einigen Monaten, ganz so, wie ich es für mich von klein auf an verinnerlicht habe: mach ich, bekomme ich schon hin.

„Dann bleibe ich bei Gretel hängen. Wäre ich sie, hätte ich wahrscheinlich das Brot mit meinem Bruder geteilt und aufgegessen, wäre munter drauflosgegangen, mutig geradeaus. Null Bock wieder nach Hause zu kehren, wo es nur Streit und Sorgen gab. Wie immer wäre ich die Handelnde, die aus dem Weggeschickt-werden vorsorglich das Freiwillig-gehen macht. Es fühlt sich weder entsetzlich an, noch bin ich verzweifelt, sondern im Gegenteil, es wirkt tatkräftig, fröhlich und frei.“

Christine hat diesen Text nicht durchgewunken, klug hat sie geahnt, dass dort etwas Verborgenes schlummerte, das geklärt werden wollte. „Überleg nur, die beiden sind doch noch so klein.“

Ich setzte mich wieder hin, so wie ich heute am Schreibtisch sitze, zerschnitt die zahlreichen Varianten von Hänsel und Gretel, klebte sie wieder neu zusammen und kritzelte mit meinem Bleistift Stichworte dazwischen. Wohin will sie mich schicken? Geht die Reise der beiden Geschwister nicht hinaus in die Welt? Gretel schupst die alte Hexe in den Ofen, Hänsel wird befreit … sie kehren zurück zu dem Vater.

„Verdammt, diese Kollektion und dieses Schreibmiteinander haben es wirklich in sich“, bricht es aus mir heraus. Wie ein Puzzle mit tausenden Teilen, will sich das Bild nicht zusammensetzen.

„Gefühle brauchen Zeit“, tröstet Christine, nachdem ich den letzten Satz an einem unserer Sonntage vorgelesen habe, und lächelt still. Dann steckt sie mir noch zwei Begriffe zu, die ich heute in den Adventskalender packe:

„Fürsorge und Geborgenheit“.

Wenn wir ehrlich sind, dann fehlten und fehlen sie uns viel zu oft. Wir tun resolut, als kämen wir auch ohne sie klar, weil sonst alles ins Wanken gerät. Dummes Zeug, wir brauchen sie mehr denn je. Genießt es, dieses Türchen zu öffnen, und macht es nicht mehr zu.