Seit Tagen liegt neben meinem Bett das kleine Taschenbuch von Swetlana Geier „Ein Leben zwischen den Sprachen“. Es sind Gespräche der großen Übersetzerin der russischen Literatur mit der Sprachwissenschaftlerin Tatjana Gut. In diesem schmalen Band von knapp 200 Seiten gewährt sie Einblick in ihr Leben, geboren in Kiew zwischen zwei totalitären Herrschaftssystemen und dann später in Freiburg mit ihren herausragenden Neuübersetzungen von Dostojewskij.

Überall sind kleine Eselsohren und ein paar eilige Markierungen mit dem Bleistift. Und obwohl ich manchmal unendlich müde bin, wenn ich abends ins Bett schlüpfe, muss ich doch noch ein paar Seiten aus dem Buch lesen. Es geht um das Vergleichen von Sprachen, die nie kongruent sind, immer geht etwas dazwischen verloren. Es muss parallel gedacht werden. Dabei meint Geier keineswegs nur den direkten Vorgang des Übersetzens, sondern, dass wir ständig übersetzen, insbesonderen jene, die zwischen Sprachen aufwachsen.

Diesen Beitrag widme ich meinem Mann, Krzysztof Graf Tyszkiewicz, der heute Geburtstag hat. Mitten im Krieg in Warschau war Polnisch seine erste Sprache.

Sein Vater sprach sechs Sprachen, aber den lernte er nie kennen (Held des Aufstandes, Displaced Person im KZ Bergen Belsen, von den Engländern aufgrund seiner Sprachkenntnisse als Verbindungsoffizier eingesetzt, blieb er bis zum Ende seines Lebens in London – eine eigene Geschichte).

Es gab ein deutsches Kindermädchen, Fräulein Traute, dann Fräulein Welke, beide aus Niederschlesien, wohin die Mutter mit den beiden Kinder geflüchtet war. Deutsch als zweite Sprache der ersten Jahre. Zurück nach Warschau in die geschlossene Stadt.

Nach dem Abitur ging er nach London, lernte englisch (ohne den Vater zu treffen), fluchte über die dortige Küche und fuhr weiter nach Paris. Er lernte französisch aus dem Dictionaire, 10 – 100 Wörter am Tag, oben in der kleinen Mansarde in der Rue Saint-Honoré im VIII Arrondissement, die Einrichtung diente als Feuerholz.

Aus den ersten Vokabel wurden Sätze bis die Nuancen reichten für ein illustres Leben zwischen La Coupole, Café de Flore, den schönen Frauen und den Bohemian Freunden.

Dann folgte Genf, man sprach französisch, und Ende der 1960er Jahre Deutschland, Hamburg, Job, Fräuleinwunder, Familie. Wieder eine neue Sprache, das Deutsch der Kindheit war nicht kompatibel.

Die begriffliche Wahrnehmung dehnt sich ständig aus, ein Leben lang. Wörter müssen permanent angeglichen werden bis hin zum Sprachduktus, der variiert. Manches lässt sich einfach nicht übertragen zwischen dem Slawischen und dem Indogermanischen. Man übersetzt und bleibt doch in seinem Gehäuse. Ach, wie wahr ist das.

Ein paar Sätze muss ich unbedingt aus dem kleinen Taschenbuch notieren, es sagt alles über die Problematik von Sprachen aus. Wie die Lehrerin von Swetlana Geier in der Schule in Kiew ständig ermahnt: Kinn hoch beim Übersetzen, das Gelesene muss verinnerlicht werden, um es dann losgelöst von der Textvorlage in die andere Sprache zu übertragen.

Swetlana Geier: „Sehen Sie, es gibt konkrete historische Voraussetzungen für eine Sprache, eine Kultur. Zum Beispiel das Latein für Westeuropa. Es gab Rom, man kann sich drehen und wenden (…) Wenn der Deutsche ein Brötchen kauft, gebraucht er lateinische Strukturen. Das Deutsche vergleicht man mit einem Fachwerkhaus, das ein festes Skelett hat. Die Zwischenräume zwischen den Balken bestehen aus einem germanischen Konglomerat. Die Balken sind das lateinische Erbe. Das Gleiche gilt für die Romanischen Sprachen. – Aber das Russisch hat keine Balken. Wenn man sich klarmacht! Was das bedeutet! Was das bedeutet…!