24 Stunden, die meiste Zeit davon eingezwängt im Flieger: Hamburg – Paris, Paris – Lima, Peru. Aufgestanden 3:00 Uhr morgens, angekommen 17:00 Ortzeit (+ 6 Stunden Deutschlandzeit). Anschließend mit Ana Peña Doig, der ehemaligen peruanischen Botschafterin in Hamburg, im Taxi durch den hupenden Stop-and-Go Straßenverkehr. Irgendwo gab es eine Prozession. Anschließend kleines Essen in ihrem schönen Appartment und Besprechung des faszinierenden Programms der nächsten Tage und Wochen. Gleich geht es mit dem Flieger nach Pucallpa in die tropische Amazonas-Region (30°C, die Knotenbluse von gestern darf Pause machen).

Mein erster Blogbeitrag aus Peru beginnt jedoch mit etwas anderen. Ich finde man nähert sich am besten einem Land, wenn man seine Schriftsteller liest. Aus diesem Grund möchte mit einem großartigen Buch beginnen, das mich während dieser Reise auf sonderbare Weise begleiten wird: Un Mundo para Julius.

Robert Eberhardt von Felix Jud hatte mir die Lektüre empfohlen. Schon die letzten Wochen konnte ich jeden Abend darin gelesen, ein Wälzer von über 500 Seiten. Es ist ein verstörend komplexer Gesellschaftsroman, der einen förmlich einsaugt. “Einer der besten Romane, die je von einem lateinamerikanischen Autor geschrieben wurden”, urteilte der mexikanische Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez. Alfredo Bryce Echenique wurde 1939 als Sohn peruanisch-englischer Eltern in Lima geboren. Sein Vater war Banker, sein Urgroßvater Staatspräsident von Peru. Er lebt in Barcelona. Das Buch erschien 1970, die deutsche Erstausgabe 2004 im Suhrkamp Verlag.

Virtuos, pointiert, zärtlich und ebenso wütend und gehässig mischt er die polierte Sprache der High Society mit dem harten Slang der Jugend. Im Mittelpunkt steht Julius, zu Beginn der Erzählung fünf Jahre alt, zart, versponnen mit dem entlarvenden Blick eines Jungen, der kritisch distanziert beobachtet. Seine Mutter, schön, mondän, einfach “zauberhaft”, wie es heißt. Mehr muss sie nicht sein und will sie auch nicht. Eventuelle Brüche irritieren, aber schnell wird sich ihrer entledigt wie ein falsch aufgetragenes Parfüm. Ihr Lieblingswort ist “Darling”. Es passt irgendwie immer. Sie und ihre vier Kinder, zwei ältere Söhne, die Tochter Cinthia und Julius leben in einem Palast in Lima. Sie heiratet in zweiter Ehe Juan Lucas, ein Erfolgsmensch, Geld macht Geld, gutaussehend, ein Typ, den man umschwärmt. Und doch ist er ein “Scheißkerl”, wie es irgendwo steht, einer, der lieber Gas gibt, als an der Ampel zu warten und vielleicht festzustellen, dass er nichts zu sagen hat.

Cover-Foto von Mario Testino

Julius wächst mit Chauffeur auf, der ihn zur Schule bringt, obwohl er lieber den Bus nehmen würde, mit Kindermädchen, Köchin und Buttler. Es zieht ihn zu diesen schlichten Menschen, aber sie haben ihre eigenen Probleme, leben ihr eigenes Leben, für das die „Herrschaften“ keine Vorstellungskraft besitzen. Warum auch?!

Während des Fluges habe ich das Buch zuendegelesen. Es schien mir mit jedem Umblättern, als würde ein Unheil kommen, als könnte jemand in den nächsten Sätzen sterben, besoffen hinter dem Lenkrad eines dieser Luxusautos, die man eben mal nachts schrottet, wenn einem danach ist. Morgen steht eh wieder ein neuer Wagen vor der Tür. Noch mehr Whiskey, noch mehr Frauen flachlegen. Das Unheil aber, das über allen schwebt, ist ihre Leere. Und das ist es, was diesen Roman so wuchtig nachklingen lässt.

Selbst in einem Land wie Peru mit diesen alten Kulturen, die ich in den nächsten Wochen kennenlernen werde, ist diese beschriebene Schicht der Reichen abgekoppelt, zauberhaft, ohne Bildung und Bindungen. Sie sind genauso austauschbar (oder auch nicht, darin liegt ihre Traurigkeit) wie ihre Paläste, Soirées, Golf-Verabredungen oder der Fuhrpark vor der Tür.

„Eine Welt für Julius“ schildert brillant den Kontrast zu dem, was ich hier suche: Ursprünglichkeit, die Seele der Menschen und der Dinge, die dieses  Land ausmachen. Beides zusammen passt zu dem Trend für den Sommer 2026, der immer auch ein Abbild von gesellschaftlichen Strömungen ist. Die Premier Vision in Paris sprach von einem “Re”: Re-fresh, Re-set, Re-store. Re-thinking our life, re-imagine our future. Auch deswegen wird mich dieses Buch auf meinen bevorstehenden Exkursionen begleiten als eine Aufnahme von einer Welt, die sich neu erfinden muss, um sie nicht am Ende “mit einem langen, leisen Weinen zu füllen, einem Weinen voller Fragen, das schon.”