Heute erzähle ich ein modernes Märchen. Ein wenig stehle ich mir von den Gebrüdern Grimm und Rumpelstilzchen mit der schönen Müllerstochter und den Kammern voller Stroh, das sie zu Goldfäden versponn. In meinem Märchen gibt es keinen König, der sich erst seinen Tresor prächtig füllen läßt, bevor er das arme Mädchen heiratet. So läuft das nicht, ihr werdet sehen, öffnet einfach mein Türchen No. 21 …
Wir hatten ein Herrenhaus vor den Toren Hamburgs mit einem Park rundherum, Hügeln und einer weißen Hirschkuh im Wäldchen, mit einer langen Auffahrt und einem großen Tor davor. Märchenhaft, passend zur Geschichte. Es sind die Anfänge von Roma e Toska, die Kollektion Herbst-Winter 2003/04. Wir sind ein Jahr zuvor, 2002, beschäftigt mit den Vorbereitungen.
In dem kleinen Wolllädchen im nächsten Ort kaufe ich ein paar Knäule und stricke daraus einen langen langen Schal, so wie es sich für dunkle Abende am Kamin gehört. Das Feuer prasselt und keiner achtet darauf, dass sich das dicke Strickwerk weit über den Teppich kringelt, bestimmt drei Meter. Zum Schluss noch die Fransen und schon präsentiert ihn die Münchner Agentur den internationalen Kunden.
Der Schal und die kleine Pullunder werden zu einem Order-Erfolg, jeder möchte sich ihn in verschiedenen Farben vielfach um den Hals wickeln. Woher die Wolle nehmen. Ich rufe bei Lana Grossa, dem Hersteller, an. Ach, es wäre ein Restposten, ich könnte ihn zu einem Sonderpreis erwerben. Man sagt mir eine Summe und eine Menge bzw. ein Gewicht. Der Preis ist o.k, den Rest kann ich mir nicht vorstellen. Und so kommt eines Tages ein riesiger LKW langsam die Auffahrt hinauf mit Wolle, die drei Kammern füllt.
Nun könnte ich zur schönen Müllerstochter mutieren. Aber da gibt es noch das Aupair Mädchen aus Marokko, das gerade unseren Handy Account mit 3.500€ überzogen hat und außerdem schwanger ist. So sitzt denn das hübsche arme Mädchen nächtelang vor dem Fernseher und strickt die Wolle zu Gold.
Wir fanden für sie einen Prinzen, der das Baby adoptierte. Der Winter ging vorbei und auch der nächste. Und nun komme ich doch noch fabulös ins Spiel: Romas Schulklasse brauchte Geld für eine Reise. Die Mütter backten und bastelten. Ich kann nicht backen, meine Tochter setzt mich massiv unter Druck. Kurzentschlossen verkaufte ich in der Pause auf dem Schulhof die restlichen Schals. 980€, ich war die Heldin. Die Übermütter bekamen einen hysterischen Schreikrampf (sie hatte €140,53 eingenommen) und verstanden die Welt nicht mehr. Es gab eine Feier zu Ehren der Spenderinnen und wieder sollte gebacken werden. Ein neues Märchen beginnt …
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