Was so ein Geburtstagsdatum nicht alles mit einem „anrichten“ kann. 8. Juli letztes Jahr, ich folge der Empfehlung meines geliebten Schriftstellers Haruki Murakami und wähle ein Geburtstags-Alter-Ego: Jean de la Fontaine (8. Juli 1621*), den großen französischen Fabelerzähler. Ein willkommener Trick, um von mir als Geburtstags-Muffel erfolgreich abzulenken. Und was wird daraus? – Eine ganze Kollektion, denn seine geichnisartigen Geschichten mit den Illustrationen von Gustave Doré (6.1.1832*) und Marc Chagall (6.7.1887*) zogen mich in den Folge-Monaten in seinen Bann.  

the-crow-and-the-fox

Der Fuchs und der Rabe, die Ameise und die Grille, der versteckte Hirsch im Stall … Jede kurze fabulöse Geschichte entwickelt eine Kraft, über sich, das Leben und die Gesellschaft nachzudenken.

Premier Vision

Stoffmesse in Paris, September 2017, Toska ist an meiner Seite versucht sich in das neue Herbst-Winter 2018–19 Thema einzudenken. (Designer sind ja immer ein Jahr im voraus.) Meinen französischen Lieferanten erzähle ich von Jean de la Fontaine mit all der Entdecker-Euphorie, die mich manchmal etwas irritierend auszeichnet. Das kommt dann in etwa so rüber, als würden die Franzosen uns von Goethe erzählen. Nun ja, immerhin sind wir im Fashion-Business und da hat zunächst Jean de la Fontaine nicht unbedingt etwas zu suchen. Falsch gedacht …

Premier VisionStoffe

…, denn vor meinem inneren Auge hat sich schon das ganz Kollektions-Puzzel zusammengesetzt: die schwarz-weißen Radierungen von Doré als Seidenprints und Futterstoffe, dazu die bestickten Tülle aus Oberitalien und die Wolljacquards aus Lyon, von Chagall inspirierte Farbdrucke als Futter in lilafarbenen Trench-Coats …

Herbst-Winter

In Paris gibt es einen Samt-Produzenten, der seine Stoffe noch einmal handübermalt, passend zu den kindlichen Illustrationen der Fabeln. Sündhaft teuer, aber irgendwie muss es doch sein …

Jean de la fontaine

Aber Stop, noch sind wir mitten im Sommer. Es ist wieder Geburtstag, der 8. Juli. Wir feiern den Illusionisten und Filmemacher Georges Méliès, der auch an einem 8. geboren wurde, allerdings im Dezember. Die unmögliche Reise zur Sonne, das Königreich der Feen und die Meerjungfrauen bestimmen die aktuelle Kollektion. Die Fabeln müssen noch ein wenig warten bis zum September und den Herbst … Aber während die neuen Dessins in Oberitalien gedruckt werden, schreibe ich in den kommenden Wochen immer wieder über Kurzweilig-Nachdenkliches, bis wir es dann als Blusen, Blazer, Kleider und Seidentücher an der Stange wiederfinden.

Gustave Dore - The Wolf and the Lamb illustration from Fables by La Fontaine 1868 - (MeisterDrucke-214766)

Der Wolf und das Lamm

Der Starke hat immer recht. Das werden wir sogleich sehen.

Ein Lamm löschte seinen Durst in einem klaren Bache. Dabei wurde es von einem hungrigen Wolf überrascht.

»Wie kannst du es wagen«, rief er wütend, »mir meinen Trank zu trüben? Für diese Frechheit musst du bestraft werden!«

»Ach, mein Herr«, antwortete das Lamm, »seien Sie bitte nicht böse. Ich trinke ja zwanzig Schritte unterhalb von Ihnen. Daher kann ich Ihnen das Wasser gar nicht trüben.«

»Du tust es aber doch!« sagte der grausame Wolf. »Und außerdem weiß ich, dass du im vergangenen Jahre schlecht von mir geredet hast.«

»Wie soll ich das wohl getan haben«, erwiderte das Lamm, »ich war da ja noch gar nicht geboren.«

»Wenn du es nicht tatest, dann tat es dein Bruder!«

»Ich habe aber keinen Bruder.«

»Dann war es eben irgendein anderer aus deiner Familie. Ihr habt es überhaupt immer auf mich abgesehen, ihr, eure Hirten und eure Hunde. Dafür muss ich mich rächen.«

Mit diesen Worten packte der Wolf das Lamm, schleppte es in den Wald und fraß es einfach auf.