Ich sitze wieder einmal im Zug von Hamburg nach Westerland auf Sylt, in aller Frühe, noch vor dem Aufwachen, wie es mir vorkommt. Aber diesmal bin ich in anderen Sphären, die Landschaft fliegt vorbei, aber ich nehme keine Notiz davon. Es ist der Abend zuvor, der mir noch in der Seele schwirrt, wundersam sich dort ausbreitet mit einer überirdisch schönen Musik von Liebe und Leben. Jawohl, ich greife tief in die Tasten der Emotionen und lasse es laufen … mit der Faszination für Martha Argerich und ihr Festival, gestern in der Laeiszhalle in Hamburg.

Martha Argerich FestivalMartha Argerich Festival

Eine Freundin hatte mir von dem Konzert erzählt, und es gelang mir noch spontan eine Karte in der ersten Reihe zu ergattern. Ich werde sie erleben dürfen: Martha Argerich, die Jahrhundert Pianistin, das Wunderkind, die vor jedem Auftritt vor Lampenfieber schier vergeht und deswegen die Tournee mit Gleichgesonnenen verabredet. Das einfühlsame Buch von Olivier Bellamy hatte ich schon vor zwei Jahren gelesen. Nun am Donnerstag standen „Der Pavillon der Pfingstrosen“ auf dem Programm – eine Kunqu Oper aus China, verwoben mit Sergei Prokofjew’s „Romeo und Julia“. Zwei Liebesgeschichten von Ost und West, beide im 16. Jahrhundert das erste Mal veröffentlicht. Eine Weltpremiere, wie wir erfahren, etwas ganz Besonderes steht bevor. Wir beide aufgeregt in der ersten Reihe und hübsch gemacht in der eigenen Kollektion, mit den Slingbacks von Taglia Scarpe an den Füßen.

Taglia ScarpeMartha Argerich FestivalMartha Argerich Festival

Das Licht wird dunkel im Saal, ein Chinese betritt die Bühne und beginnt auf seiner Flöte zu spielen. Eine klare weit tragende Melodie. Ein zweiter Chinese kommt von der anderen Seite, geräuschlos, als würden seine Füße den Boden nicht berühren. Er ist auf traditionelle Weise geschminkt, trägt einen hellen Kimono. Er beginnt seinen Gesang in hohen Tönen, die für unsere Ohren fremd sind, den Raum durchtrennen und gleichzeitig die Welt umarmen. Es berührt in der Sekunde mein Herz. Der Prolog „Die Suche: Ist es der Wunsch des Herzens, der den Schatten immer so nah am Körper vorbeiziehen lässt?“. Der Vortragende ist Zhang Jun, in Shanghai geboren, einer der wichtigsten Künstler Chinas und seit 2011 zum UNESCO Künstler für den Frieden ernannt. Wir alle im Saal hängen in dem melodischen Geflecht seiner Stimme. Seine Hände greifen zart nach dem Leben und geben es mit einer kleinen Bewegung wieder frei …

Martha Argerich Festival

Dann betreten Martha Argerich und Sergei Babayan die Bühne. Beifall! Der Sänger bleibt und man spürt die Verbundenheit der Drei. Ihre Finger greifen in die Tasten, fliegen darüber hinweg, immer mit dieser auratischen Luft dazwischen, die die Klänge zu einem allumfassenden Gebilde werden lassen. Eine Liebesgeschichte von Ost und West einsteht, die im Verlauf der nächsten Stunde zu eins wird. Es reißt mich davon und mir fließen die Tränen über die Wangen. Aber ich bin nicht die einzige, der es so geht. „Die Begegnung“, „Der Liebeskummer“, „Die Abreise“, „Keine Reue“ … Die Musik ist Hingabe, Virtuosität, Dialog und Transzendenz. So etwas habe ich noch nie erlebt, doch vielleicht, in der Kunst, bei Cy Twombly in München, oder bei Tizian jetzt in Frankfurt. Mit der Pause habe ich das Gefühl, gestorben und wieder neu geboren zu sein, kann mich gar nicht gleich erheben für ein Glas Wein im Foyer.

Martha Argerich Festival

Der zweite Teil ist dann ganz der Chinesischen Kunqu Oper gewidmet, die seit 2001 auf der Liste der UNESCO Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit steht. „Selbst der Tod wird uns nicht entzweien.“ Martha Argerich sitzt an der Seite auf der Bühne und lauscht dem Auf-und-Ab des preisenden und klagenden Gesangmonolog, der die Geliebte wieder in das Leben zurück holen will. Als es zu Ende ist, steckt sie die Hand bewundernd dem Künstler Zhang Jun entgegen. Gemeinsam haben sie die Bühne zu einer Welt gemacht, die in die Unendlichkeit reicht. Nicht mehr und nicht weniger.

Martha Argerich Festival

Das Martha Argerich Festival geht noch drei Tage bis zum Sonntag, den 30. Juni. Und, es gibt noch Karten für ein Erlebnis „out of the ordinary“ mit einer Pianistin, die ihres Gleichen sucht und mit ihren außergewöhnlichen Freunden.

Laeiz HalleMartha Argerich Festival