Letztens kommt eine Frau, teuer gekleidet, zu mir ins Geschäft in Kampen, schaut sich um und erzählt, dass sie gern ihre alten Taschen und Antiquitäten verkaufen würde, aber leider kauft sie keiner. Und die Ausländer bekommen ja alles neu …– Was haben denn ihre ollen Kroko-Taschen mit den Ausländern zu tun? Solche Nebensätze machen mir Sorgen. – Und nun Chemnitz! Eine Stadtfeier, ein Konzert, eine große Anzahl friedlicher Menschen, die miteinander genießen und erleben wollen, aber an den Rändern beginnt ein Tumult, entlädt sich eine Aggression, ein Mensch stirbt … Es hätte überall passieren können! (Tägliche Mordrate in Deutschland etwas mehr als 1 pro Tag.) Diesmal waren die vermeidlichen Täter Ausländer und die „bisher so verschlafene und ruhige Stadt Chemnitz rückte in die Weltpresse und wusste selbst nicht wie das geschah“, so Matthias Köhler (The-Coffee-Jacket), der aus der Stadt stammt, gleich nach der Wende dorthin zurückgekehrte, dort lebt und arbeitet.
Wir produzieren in der Nähe, im Erzgebirge zwischen Wiesen, Feldern, altem Baumbestand, Gartenzwergen und Jägerzäunen. Seit vielen Jahren nähen die Frauen dort für uns die Kollektion, gewissenhaft, verantwortlich, fleißig.
Seit gut einem Jahr hat der gebürtige Erzgebirgler Frieder Weissbach mit seinem Lebenspartner die Geschäfte übernommen. Ich habe ihn gebeten, ein Statement zu geben, warum er Chemnitz und die Region seiner Kindheit so liebt und dort seine unternehmerische Zukunft gefunden hat:
„Ich bin gebürtiger Stollberger (benachbarte Stadt) und in einem Vorort von Chemnitz aufgewachsen. Studium in Leipzig, Halle und Amsterdam und mit 40 aus beruflichen Gründen zurück nach Chemnitz. Vom Professor zum Unternehmer. Vom Berufspendler zwischen Leipzig und Dresden, zum Pendler zwischen meiner geliebten Heimat Leipzig und meiner alten Heimat-Liebe Chemnitz. Ich genieße das sehr. Und kennen alle 3 Städte recht gut.
Chemnitz stand immer im Schatten der beiden sächsischen Städte Leipzig und Dresden. Dresden, die spürbar piefige Residenzstadt (heute Landesregierungssitz), die in Tradition und Dünkeltum verharrt, und Leipzig, die Messestadt, die schon immer in regem Austausch mit Welt und Leuten stand, offen ist und so schon immer eine enorme Anziehungskraft auf z.B junge Kreative aus der ganzen Welt hat. Chemnitz ist dagegen fast unsichtbar und Erfolge der Region beispielsweise werden leicht übersehen. Die Deutsche Bahn bietet nicht einmal eine IC-Verbindung. „In Chemnitz wird gearbeitet, in Leipzig gehandelt und in Dresden gefeiert“ besagt ein altes sächsisches Sprichwort. Der Volksmund spricht vom „Russkaamns“ (Ruß-Chemnitz). Eine Bezeichnung, die durch die vielen stolz rauchenden Schlote der hier blühenden Gründerzeit geprägt wurde.
Zu DDR-Zeiten lebte er in grauen Fassaden und verfallender Gebäude weiter. Chemnitz hat durch Krieg und gnadenlose Abrisse in der DDR seine gesamte Innenstadt verloren. Manchmal habe ich das Gefühl wir Chemnitzer haben auch durch diesen architektonischen Verlust der Innenstadt, ein Stück weit verlernt Stadt zu sein und vor allem zu leben. Die in den vergangenen Jahren entstanden Innenstadt wird, wenn ich es nach meinen leipziger Maßstäben beurteile, nur wenig und mühsam vom Chemnitzer angenommen. Cafés, Kneipen und Geschäfte ringen um Kundschaft. Man ist Neuem und Fremden gegenüber eher skeptisch. Die Schicht an – neudeutsch ausgedrückt –“early adopters“ ist äußerst dünn. Chemnitz ist die am schnellsten alternde Stadt in Europa (Quelle „Eurostat-Demografen“). Schon in zwei Jahrzehnten werden 70,2% der Bürger über 65 Jahre alt sein. Zum Vergleich werden in Hamburg 2030 nur 25,9% älter als 65 sein. Eigentlich spricht alles für forcierten Zuzug und Zuwanderung, begleitet von motivierter Integrationsleistung aller Seiten. Ein Thema von großer Relevanz! Gesellschaftlich, aber auch wirtschaftlich. Für mich als Mittelständler, und da bin ich sicher nicht der Einzige, ist das vorrangigste Problem junge motivierte Mitarbeiter zu finden.
Natürlich gibt es nicht DAS Chemnitz oder DEN Chemnitzer. Was es aber geben sollte und muss, ist ein gemeinsamer demokratischer Wille die eigene Stadt in eine Zukunft zu führen, die keinen ausgrenzt und ALLE mitnimmt! …
Für eine gesunde demokratische Zukunft brauchen wir Alle einen klaren besonnenen Blick auf die Probleme unserer Zeit und unserer Stadt. Eine ehrliche Sorge um das offene und tolerante Miteinander, welche uns in die Verantwortung nimmt und nicht ausgrenzt. Kurz gesagt ein waches Bürgertum im besten Wortsinn. #wirsindmehr
Warum Chemnitz überall sein kann? Letzten Sonntag ein Aufmarsch Rechtsradikaler in Hamburg. Das Bild ist die Gegendemonstration – geht doch! #wirsindmehr.
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