Eine neue Edition von meinem “Secret Salon” oben im Tempel von 1844. Angela und ich sind mittlerweile ein eingeschworenes Match, sie arbeitet an einem Buch, ich arbeite an einem (oder mehreren zugleich), damit bekommt das, worüber wir sprechen eine ganz andere Intensität. Und wo sitzt Ihr dieses Mal, könnte die erste Frage lauten. Zuletzt schrieb Angela an ihre Tochter: Es ist Freitag, ich bin in einem jüdischen Tempel, wir sitzen in der Badewanne und unterhalten uns über ein mir unbekanntes Buch, Bruce Chatwin. Klingt doch herrlich absurd.

An diesem Freitag machen wir es uns im Bett bequem. Ein wenig sind die Räumen noch kühl, wir lassen die Mäntel umgeschlungen, haben den Tee aufgebrüht. Unsere Lektüre: Annie Ernaux, Erinnerungen eines Mädchens, 2016 bei Gallimard in Paris erschienen, 2020 in der deutschen Erstübersetzung. Das Buch mit seinen 164 Seiten hat es in sich und macht einmal mehr die Autorin zur verdienten Nobelpreisträgerin der Literatur 2022.

Mir fehlte die Zeit, bin nur bis Seite 64 gekommen. Angela hat es in einem Zug durchgelesen, umso schöner, so erzählen wir es uns gegenseitig von den Anfängen, die Passagen dazwischen, das Ende lassen wir offen.

Bücher finden einen, dieses erzählt auf irritierende Weise unsere eigene Geschichte. In schlichten glaskaren Sätzen wird die Schriftstellerin zur “Archäologin”, die Schicht für Schicht mit den Mitteln der Sprache das Wesentliche freilegt: ein junges Mädchen, nicht vorbereitet auf das Leben, das sich hungrig und naiv in ein sexuelles Abenteuer stürzt oder besser es gewähren lässt: “Sie unterwirft sich nicht ihm, sondern einem universellen Gesetz, dem Gesetz der wilden Männlichkeit… Und wenn dieses Gesetz brutal und dreckig ist, dann ist das eben so.” (Seite 46)

Annie Ernaux ist eine Generation älter als wir beide, aber zwischen dem Mädchen Sommer 58, wie sie es nennt, und uns Mädchen Sommer 78 ist kein großer Unterschied. Die sexuelle Befreiung der sechziger Jahre ging an unseren Eltern spurlos vorbei, Kriegskinder ohne Idee, was Frausein bedeuten kann, außer Mutter sein, treu, brav, bloß nicht zu viel lieben.

Tastend nähert sich die Autorin der 18-Jährigen von damals. Ist sie es, oder ist es eine andere? Wie blendet man alles aus, was danach kam? Erste Versuche einer litarischen Aufarbeitung scheiterten. 55 Jahre vergehen seit dem Erlebnis. “Soll ich unter Umständen das Mädchen von 58 und die Frau von 2014 zu einem ‘Ich’ verschmelzen”, fragt sie sich. Oder ist es ein “sie” und “er”, wie Menschen heimlich hinter der Tür reden? – “…und in diesem Moment meint man zu sterben.”

Wie ich es nachempfinden kann. Ich höre meine Mutter und meine Schwester leise flüstern: Ob sie/ich normal wäre? Irgendetwas stimmt doch nicht mit ihr/mir. Angela und ich erzählen uns Dinge, die wir kaum anderen anvertraut haben, das Buch ist dafür eine Hilfe, ein Anstoß, zwischen uns die Kekse, die Kerzen, der Tee.

War es eine Vergewaltigung oder eine stumme Zustimmung, weil man es laufen ließ? Warum kam er nur zurück, wenn ihm danach war? Ich erinnere die quälende Stille neben dem Telefon zuhause. Kein Anruf. Was bin ich wert, ihm wert? “Er lässt einen mit der Wirklichkeit allein”, so Ernaux. Es könnten in Abwandlungen auch unsere Sätze sein in dem Buch. Jede von uns ging auf ihre Weise mit den Erlebnissen von früher um, unvorbereitet auf das, was man leichtfertig mit Liebe verwechselte.

“Man könnte jetzt ein Buch schreiben und ihn zu einer Hauptfigur machen oder ernsthaft mit dem Musizieren beginnen – oder sich umbringen”, heißt es auf der ersten Seite. Es gibt diese Punkte, von denen aus, das Lebens unverhofft abbiegt und sich anders entwickelt als geträumt. Ob sich die Typen noch an uns erinnern?

“Ich beneide ihn nicht, ich bin es, die schreibt.” Damit erobert Annie Ernaux sich und das Mädchen von 58 zurück, und wir uns auch. Am Ende frage ich Angela, wie sie dieses Buch ihrer Tochter empfehlen würde. “Lies es und versteh meine Jugend”, sagt sie nach kurzem Nachdenken.

Erinnerungen eines Mädchens ist ein großartiges Buch. Es gehört in die Liga eines Hemingways, so präzise wie “Der alte Mann und das Meer”. Kein Wort darf fehlen, keines darf verschoben werden.